0

Brauchbare Illegalität

Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen

Erschienen am 16.09.2020, 1. Auflage 2020
22,00 €
(inkl. MwSt.)

Noch nicht lieferbar

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593513010
Sprache: Deutsch
Umfang: 278 S.
Format (T/L/B): 2 x 21.2 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Alle weichen mal von den Regeln ab. Das gehört zum Leben in Organisationen dazu. Der Grund: Organisationen brauchen Regeln, um berechenbar zu sein, für situative Anpassungen sind aber auch Regelbrüche nötig. Da diese überhaupt erst das Funktionieren von Organisationen aufrechterhalten, spricht man in der Organisationsforschung von 'brauchbarer Illegalität'. Dabei ist, so der Soziologie und Organisationsberater Stefan Kühl, nicht jeder Verstoß nützlich: Manchmal zielt er nur auf einen persönlichen Vorteil, nicht selten endet er in einem für die Organisation hochriskanten Skandal. Wie kommt es zu Regelbrüchen? Wann können von ihnen wichtige Impulse ausgehen? Wo liegen Probleme der Regelabweichungen? Wie kann man sich intern über sie austauschen? Anhand einer Vielzahl von konkreten Fällen wirft der Autor einen genauen Blick auf die Nützlichkeiten und Risiken der alltäglichen Regelabweichungen in Organisationen.

Produktsicherheitsverordnung

Hersteller:
null

Autorenportrait

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Ministerien, Verwaltungen, Unternehmen und Hochschulen. Zuletzt erschienen von ihm bei Campus 'Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücke der flachen Hierarchien', 'Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation' und 'Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur'.

Leseprobe

Regelverletzungen in Organisationen - Eine Einleitung Wenn wieder einmal eine Organisation wegen eines Umweltverstoßes, Schmiergeldskandals oder einer Finanzmanipulation in der öffentlichen Kritik steht, lohnt sich ein Blick in das klassische Theaterstück des Dramatikers Heinrich von Kleist über die Befehlsverweigerung des Prinzen Friedrich von Homburg. Kleist, der selbst in seiner Jugend als Leutnant in der preußischen Armee gedient hatte, konfrontiert in diesem Theaterstück seinen Helden mit allen Tücken einer erfolgreichen Regelabweichung. Die Geschichte ist denkbar einfach. Der Prinz von Homburg dient als General der Reiterei in der Armee des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Vor der Schlacht gegen die schwedischen Truppen erteilt der Kurfürst seinen Generälen den Befehl, den Feind nur nach ausdrücklicher Anordnung anzugreifen - jeder solle, 'wie immer auch die Schlacht sich wenden mag, vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen' (Kleist 1996, S.528). Der oberste Befehlshaber der Armee verpflichtet die Organisation und all ihre Mitglieder auf strikte Gefolgschaft und Einhaltung der Befehlswege. Aber der Prinz von Homburg tut so, als hätte er diesen Befehl nicht gehört - vielleicht hat er ihn auch nicht gehört - und befiehlt seiner Kavallerie trotz der fehlenden Order und trotz der eindrücklichen Warnung seines ersten Offiziers den Angriff. Er fordert von seinen Untergebenen unbedingte Gefolgschaft ein: 'Ein Schurke, wer seinem General zur Schlacht nicht folgt!' Und er übernimmt die Verantwortung: 'Ich nehms auf meine Kappe. Folgt mir, Brüder!' (Kleist 1996, S.536) Der Prinz entpuppt sich also als Paradebeispiel einer proaktiv agierenden, Risiko eingehenden und Verantwortung übernehmenden transformationalen Führungskraft. Und die Risikobereitschaft zahlt sich aus. Der Überraschungseffekt gelingt. Durch die mutige Initiative des Prinzen gewinnt die Brandenburg-preußische Armee die Schlacht. Der Erfolg ändert jedoch nichts daran, dass es sich um einen klaren Fall von Befehlsverletzung handelt. Der Kurfürst von Brandenburg ist empört: 'Wer immer auch die Reiterei geführt, am Tag der Schlacht damit ist aufgebrochen, eigenmächtig, bevor ich Order gab, der ist des Todes schuldig, das erklär ich.' (Kleist 1996, S.544) Der Kurfürst lässt den Prinzen verhaften und verhängt das Todesurteil über den Gehorsamsverweigerer. Sicherlich in Kleists Drama geht es nicht um die ähnlichen Verhaltensmuster der Vielen, sondern es lebt von der für Theaterstücke üblichen Zuspitzung auf einzelne Personen und ihre Konflikte. Dennoch stecken in dem Stück bereits fast alle Fragen, die sich Organisationen beim Umgang mit Regelabweichung und Gesetzesverstößen stellen. Es liegt ein klarer Regelverstoß vor, aber gibt der Erfolg dem Regelbrecher nicht nachträglich recht? Und wer darf beurteilen, ob der Regelbruch letztlich ein Erfolg gewesen ist? Die Schlacht ist gewonnen, aber ein Großteil der schwedischen Armee konnte fliehen. Ist der Gewinn der Schlacht nicht nur ein Pyrrhussieg, der sich bei der nächsten Schlacht bitter rächen kann? Hätte ein kluges Abwarten vielleicht die Vernichtung des gegnerischen Heeres und damit nicht nur den Sieg in der Schlacht, sondern vielleicht auch im ganzen Krieg bedeutet? Und was treibt den Regelbrecher an? Auf den ersten Blick nur das Wohl der Organisation aber spielt nicht auch die Suche nach individuellem Ruhm eine Rolle? Hat er die Kosten und Nutzen der Befehlsverweigerung für sich und auch für das gesamte Herr rational durchkalkuliert, oder hat er intuitiv gehandelt? Und last, but not least wie soll die Organisation mit diesem auf den ersten Blick erfolgreichen Regelbruch umgehen? Soll man den Regelverletzer wie vom Kurfürsten angekündigt trotz seiner möglicherweise guten Absichten und trotz des Erfolges bestrafen oder soll man ihn als vorbildhaften Organisationsrebellen und Musterbrecher feiern? Funktionale Regelverletzungen und brauchbare Illegalität Organisationen müssen, so die Lehre aus Kleists Theaterstück, einerseits die Wirksamkeit des formalen Regelwerks sicherstellen, sind aber andererseits darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder zum Wohle der Organisation immer wieder von Regeln abweichen und Anweisungen ignorieren (Bosetzky 2019, S.37ff.). Denn formale Regeln sind häufig zu rigide, um für jede Situation angemessen zu sein, und verlangen deswegen von der Organisation die Bereitschaft, Abweichungen zu dulden, durch die aber die Existenz der formalen Ordnung nicht grundlegend in Frage gestellt werden darf. In der Wissenschaft wird die für die Organisation funktionalen Regelabweichungen als 'brauchbare Illegalität' bezeichnet. Mit brauchbarer Illegalität wird dabei nicht nur ein Verhalten bezeichnet, das gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch ein Verhalten, das formale Erwartungen in Organisationen - also die Gesetze der Organisation - verletzt (Luhmann 1964b, S.304). Es geht also bei brauchbarer Illegalität sowohl um die Missachtung von Arbeitsschutzgesetzen, das Überschreiten staatlich vorgegebener Ruhezeiten bei LKW-Fahrern oder die Bestechung von Kunden zur Erhaltung eines Auftrages als auch um Fälle wie die Nichteinhaltung von vorgeschriebenen Dienstwegen oder der Verstoß gegen interne Verfahrensrichtlinien, durch die zwar formale Erwartungen der Organisation verletzt, aber nicht staatliche Gesetze gebrochen werden. Auffällig ist dabei, wie regelmäßig die Regeln in Organisationen gebrochen werden. Die Regelabweichungen sind so stark in der Organisation verankert, dass Organisationsmitglieder informale Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind zentraler Teil der Kultur von Organisationen. Bei aller üblichen Skandalisierung von Regelbrüchen und Gesetzesverstößen ist die Einsicht in die Funktionalität der Regelabweichung in Organisationen in der Praxis weit verbreitet. Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als die effektivste Streikform, um eine Organisation lahmzulegen. Wenn alle Regeln und Anweisungen buchstabengetreu ausgeführt werden, wird die Organisation auch bei noch so guter Planung immer schwerfälliger. Die Organisation zerbricht an der rigiden Auslegung ihrer formalen Strukturen. Sie geht an ihrem 'Ordnungs- und Verordnungswahn', ihrer 'Regulierungswut' und ihrem 'Regelfetischismus' zugrunde (vgl. früh schon Crozier 1963, S.247ff.). Wer es nicht glaubt, probiere in einer Art Krisenexperiment aus, über mehrere Tage bis ins Detail nur genau das zu tun, was von der Organisation vorgeschrieben ist. Man würde den Arbeitsprozess weitgehend zum Erliegen bringen. Man würde als 'bürokratischer Virtuose', der nie auch nur eine Regel vergessen könne, als 'penetranter Formalist', der nicht in der Lage sei, auch mal 'Fünfe grade sein zu lassen', oder als 'regelbesessener Korinthenkacker', der nicht wisse, wie eine Organisation wirklich funktioniert, diskreditiert werden. Der Druck von Kollegen und Vorgesetzten würde stetig wachsen, den 'Bürokratismus' - so nennt man die strikte Einhaltung der formalen Ordnung - nicht zu übertreiben. Scheiternde und gelingende brauchbare Illegalität Die Einsicht in die Funktionalität von punktuellen Regelabweichungen in Organisationen wird durch ein Phänomen erschwert. Über Regelabweichungen wird immer dann öffentlich diskutiert, wenn etwas grundlegend schiefgegangen ist. Die spektakuläre Pleite eines US-amerikanischen Energieunternehmens führt zur Verdammung von Tricks bei der Darstellung der Finanzen und nicht zum Lob für die buchhalterische Kreativität des Unternehmens (siehe z.B. McBarnet 2006). Das Bekanntwerden der Manipulation von Abgaswerten durch Unternehmen eines Automobilkonzerns hat zur Folge, dass die Einhaltung von Gesetzen öffentlich eingefordert wird und blockiert wiederum das Verständnis dafür, dass Verstöße gegen Regeln in Organisationen immer wieder notwendig sind. Allein der Blick auf diese Beispiele zeigt, wie sehr unsere Perspektive auf Regelabweichungen durch das ...

Schlagzeile

Der Sinn von Regelbrüchen

Weitere Artikel aus der Kategorie "Soziologie/Arbeitssoziologie, Wirtschaftssoziologie, Industriesoziologie"

Alle Artikel anzeigen