Beschreibung
Extreme politische Ansichten haben Konjunktur. Auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums, aber auch in religiösen Milieus radikalisieren sich Positionen und stellen demokratische Werte und Institutionen infrage. Dieser Band gibt einen Überblick über die zentralen Aspekte dieses Phänomens: die Radikalisierung von Individuen, von Gruppen und von Gesellschaften, Deradikalisierung, Online- Radikalisierung und die Präventionsmaßnahmen. Außerdem werden eine Reihe wertvoller Handlungsempfehlungen für Politik und Zivilgesellschaft formuliert. Mit Beiträgen unter anderem von Naika Foroutan, Peter Neumann und Andreas Zick
Produktsicherheitsverordnung
Hersteller:
null
Autorenportrait
Christopher Daase ist Professor für Internationale Organisation an der Universität Frankfurt am Main. Nicole Deitelhoff ist dort Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik; beide sind geschäftsführende Vorstandsmitglieder des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Julian Junk ist Post-Doc und Projektleiter an der HSFK.
Leseprobe
Einleitung Julian Junk, Christopher Daase und Nicole Deitelhoff Extremismus ist kein neues Phänomen. Im Gegenteil: in jedem politischen System gibt es extreme Ansichten; in der Bundesrepublik Deutschland ist die Wehrhaftigkeit gegenüber Extremismen, die die liberale Demokratie infrage stellen, einer der wesentlichen Bausteine der politischen wie zivilgesellschaftlichen Ordnung. Auch wenn extreme politische Ansichten in der letzten Dekade an Aufmerksamkeit gewonnen zu haben scheinen, so gab es solche Konjunkturen schon immer: von der öffentlichen Auseinandersetzung mit Linksextremismen in den 1970er und 1980er Jahren über Rechtsextremismen insbesondere in den 1990er Jahren bis hin zu islamistischen Extremismen in den letzten fünfzehn Jahren. Schon immer waren diese Aufmerksamkeitskonjunkturen gleichermaßen Treiber für sicherheitspolitische Maßnahmen und für Forschungen zu Ursachen und Konsequenzen extremistischer Bestrebungen. Neu mag in den letzten Jahren sein, dass rechtsextreme Gewalttaten, rechtspopulistische Tendenzen und islamistische Gefährdungslagen gleichzeitig öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, dass alle diese Phänomenbereiche auch durch technologischen Fortschritt dynamischer und interaktiver in ihren Weiterentwicklungen und globaler und dichter in ihren Vernetzungen wurden und dass eine schier unüberschaubare Vielzahl von öffentlich geförderten Programmen, die Prävention durch zivilgesellschaftliche Gruppen sowie staatliche Zwangsmaßnahmen, etwa durch Verschärfungen im Strafrecht, adressieren. Sowohl politisch wie auch wissenschaftlich wurde es bislang weitestgehend versäumt, die Wissensbestände zu den verschiedenen Extremismusformen und zum Umgang mit diesen vergleichend auszuwerten und sich kritisch mit den Unterschieden wie auch Gemeinsamkeiten auseinanderzusetzen. Diese Zusammenführung eines bislang eher fragmentarisch vorhandenen Wissensstands ist auch deshalb wichtig, weil wir es mit einem sehr komplexen Zusammenspiel von verschiedensten individuellen, gruppenbezogenen und gesellschaftlichen Ursachen illiberaler Radikalisierung zu tun haben. Um liberale Werte und Institutionen zu stärken und die Ambivalenz von Radikalität zwischen gesellschaftlicher Herausforderung und Chance zu ergründen, müssen die Mechanismen individueller und kollektiver Radikalisierung in ihrer Breite verstanden werden - und zwar vergleichend über aktuelle Konjunkturen der Aufmerksamkeit für Islamismus hinaus. Die sieben Kapitel dieses Bandes bieten eine Bestandsaufnahme des Forschungsstands zu Radikalisierung und Deradikalisierung. Die Beiträge eint ein breites Verständnis von Radikalisierung, das den Ambivalenzen der Geschichte dieses umstrittenen Begriffs gerecht wird. Dieses breite Verständnis von Radikalisierung wird im ersten Kapitel entwickelt - ein Verständnis, das der Prozesslogik des Begriffs ebenso gerecht wird wie Spannweite von gewaltfreier zu gewaltsamer Radikalisierung. Gleichwohl setzt jedes Kapitel eigene, dem jeweiligen Thema angepasste Akzente in der Begriffsverwendung. Es ist genau dieser Pluralismus, den die Radikalisierungsforschung so dringend benötigt. Denn nur dann kann sie umfassend auf gesellschafts- wie sicherheitspolitisch virulente Fragen mögliche Erklärungen liefern und Handlungsoptionen generieren. Nach einem ersten Kapitel, in dem Abay Gaspar et al. nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Gewaltzentrierung der Radikalisierungsforschung programmatisch vorschlagen, zwischen Radikalisierung in die Gewalt, Radikalisierung in der Gewalt und Radikalisierung ohne Gewalt zu unterscheiden, beleuchten die folgenden drei Kapitel den Forschungsstand unterteilt nach drei Analyseebenen: der Radikalisierung von Individuen, der Radikalisierung von Gruppen sowie der Radikalisierungstendenzen auf der gesellschaftlichen Ebene. Die letzten drei Kapitel nehmen drei zentrale politische wie wissenschaftliche Herausforderungen in den Blick: Deradikalisierung, Online-Radikalisierung und die Evaluierung von Präventionsmaßnahmen. Im Kern arbeiten alle Kapitel den Forschungsstand zum jeweiligen Themenfeld auf und bewerten ihn. Daraus werden Handlungsempfehlungen für verschiedene Adressatenkreise (von der Politik über die Präventionspraxis und Sicherheitsbehörden bis hin zur Wissenschaft) abgeleitet. Jedes Kapitel schließt mit einigen kommentierten Leseempfehlungen zur weiteren, vertiefenden Lektüre. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über einige zentrale Erkenntnisse dieser zwei Sektionen zu Analyseebenen und virulenten Herausforderungen gegeben werden. Individuelle, gruppenbezogene und gesellschaftliche Radikalisierung In der Auswertung des Forschungsstands zu individueller Radikalisierung erläutern Srowig et al. im zweiten Kapitel, dass insbesondere die Aneignung extremistischer Denkmuster und die Mitgliedschaft in einer extremistischen Gleichaltrigengruppe im Jugendalter zumeist auch eine (sozio-)biografische Funktion erfüllt - in der Bewältigung kritischer Lebensereignisse, der Lösung von Entwicklungsaufgaben oder der Überwindung einer Statuspassage. Dabei geht es sowohl um die Reduktion von Unsicherheiten und Identitätskonflikten als auch um die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse wie Zugehörigkeit und Anerkennung. Gruppenbezogene Ideologien sind dabei aber nicht vollkommen unbedeutend. Sie bieten Individuen subjektiv nachvollziehbare Deutungsmuster und individuelle Handlungsalternativen für spezifische Problemlagen an, welche dann im biografischen Kontext relevant sind. Erst in den letzten Jahren habe sich, so das Autorenteam des Kapitels, die Forschung zunehmend auf multifaktorielle Erklärungsmodelle und darauf aufbauender empirischer Forschung konzentriert. Zuvor waren Einzelzugänge, die sich auf Persönlichkeitsdispositionen, soziale Umfeldfaktoren oder gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen als primäre Ursache für Radikalisierungsprozesse beziehen, dominant, wurden aber aus unterschiedlichen Gründen der Komplexität von Radikalisierungsprozessen nicht gerecht. Ursachen individueller Radikalisierungsprozesse können nur dann ergründet werden, wenn die Erkenntnisse bisheriger Forschungen zu Persönlichkeitsfaktoren im Kontext biografischer Analysen und sorgfältiger Forschungen über den Einfluss von Kontexteinflüssen erfolgen. Individuelle Radikalisierungsverläufe sind fast immer mit Gruppenmitgliedschaft verbunden. Im dritten Kapitel tragen Meiering et al. den Kenntnisstand zu Mechanismen gruppenbezogener Radikalisierung zusammen. Sie beschreiben gruppeninterne Homogenisierungsprozesse, durch die sich ein kleiner Kreis von Aktivistinnen und Aktivisten herausbildet, die beispielsweise bereit sind, eine Gruppenideologie durch immer exzessivere Formen von Gewalt in die Tat umzusetzen. Besondere Dynamik entfalten diese Mechanismen, wenn sie in Interaktion mit gruppenexternen Prozessen treten. Gruppenradikalisierungen werden angefacht, wenn etwa subjektive Unrechtserfahrungen wie Diskriminierung, Marginalisierung oder Deprivation von bestimmten Gruppen als Teil eines politischen (oder religiösen) Kampfes interpretiert werden. Aber auch Interaktionsdynamiken wie Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, Repressionen, Konfrontationsgewalt oder Kriminalisierung können eine Radikalisierungsspirale beschleunigen. Neben den (eher formellen) Interaktionsaktionsdynamiken spielen auch kognitive, sozialisierende und ideologische Prozesse eine große Rolle für Gruppenradikalisierungen. Erst durch sie wird verständlich, auf welche Art und Weise eine derartige Homogenität innerhalb der Gruppe hergestellt werden kann, die potenziell auch Gewalthandeln begünstigt. Kollektive Deutungsmuster entstehen vor allem in jugendlichen Gruppen durch die Sozialisation in bestimmten Subkulturen, die unter anderem auch als Gegenkultur oder Popkultur strukturiert sein können, wodurch sie leichter in bürgerlichere Milieus und den gesamtgesellschaftlichen Diskurs eindringen. Gruppen wirken so auch als Katalysator für gesellschaftliche Radikalisi...