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Zwischen Institutionalisierung und Abwehrkampf

Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration, International Labour Studies 19

Erschienen am 04.10.2018, 1. Auflage 2018
42,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593509730
Sprache: Deutsch
Umfang: 278 S.
Format (T/L/B): 1.7 x 21.3 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Die europäische Integration stellt Gewerkschaften vor große Herausforderungen. Während die Schaffung eines gemeinsamen Marktes übereinstimmende politische Positionen immer notwendiger werden lässt, wird deren Etablierung durch die zunehmende politökonomische Heterogenität der Europäischen Union weiter erschwert. Der vorliegende Band beleuchtet diese Problematik in Fallstudien aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven und zeigt die erfolgreichen und weniger erfolgreichen Strategien gewerkschaftlicher Akteurinnen und Akteure auf.

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Autorenportrait

Martin Seeliger ist Soziologe und wiss. Mitarbeiter an der Universität Flensburg. Johannes Kiess ist Soziologe an der Universität Siegen.

Leseprobe

Zwischen Institutionenbildung und Abwehrkampf: Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration Johannes Kiess und Martin Seeliger 1. Einleitung Welche Rolle spielen die Gewerkschaften im Prozess der europäischen Integration? Zehn Jahre nachdem der Europäische Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung zur Dienstleistungsfreiheit mit dem legislativ institutionalisierten Streikrecht ein grundlegendes Element des Sozialen Rechtsstaats in Frage gestellt (Höpner 2013) und die Krise der globalen Finanzmärkte die sogenannten Schuldenstaaten - und damit weite Teile der südeuropäischen Lohnabhängigen - in die regierungsverordnete Austerität gedrängt hat, stellt sich die von Deppe (2012) nach den Gewerkschaften in der großen Transformation aufgeworfene Frage mit anhaltender politischer Brisanz. Die Eingliederung von immer mehr europäischen Ländern in einen institutionell immer weiter zu vertiefenden gemeinsamen Markt hat von jeher die zentrale Dynamik der europäischen Integration ausgemacht. Wie gerade die Währungsunion gezeigt hat, bedingt die Stärkung ökonomischer Interdependenz zwischen den Ländern allerdings keineswegs jene soziale Kohäsion, von der Sozialwissenschaftler meinen, dass sie für die Gewährleistung eines einigermaßen gerechten Zusammenlebens unverzichtbar ist (Polanyi 1957). In anderen Worten, jene soziale Dimension (siehe Fetzer in diesem Band), die vor allem mit dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors verbunden wird, entsteht nicht einfach als spill-over (vgl. Haas 1958; Rosamond 2005) aus der fortschreitenden institutionellen und ökonomischen Integration. Vielmehr ist ihr (Nicht-)Entstehen abhängig von Kräfteverhältnissen im politischen Mehrebenensystem der Europäischen Union (Pierson/Leibfried 1998; Börzel 2008; Fehmel 2015). Während die Integration eines gemeinsamen Arbeitsmarktes unter neo-klassischen Gesichtspunkten zunächst eine effizientere Arbeitsteilung und so effektivere Produktionsmöglichkeiten bietet (Smith 1904), bedarf es unter kapitalistischen Umständen einer kollektiven Instanz zur Vertretung von Lohnabhängigeninteressen um die von Polanyi angesprochene gesellschaftliche Integration zu flankieren. Unter den gegebenen Bedingungen sehen wir eine solche Instanz nach wie vor am ehesten in den Gewerkschaften. Den Herausforderungen, denen sich diese im Prozess der fortschreitenden Integration ausgesetzt sehen, widmet sich der vorliegende Band. Die Vertiefung der europäischen Integration hat durch den Abbau nationaler Tarif- und Handelsbarrieren sowie die makroökonomische Kennzahlensteuerung der Wirtschafts- und Währungsunion in den Euroländern verschiedene Mechanismen institutionalisiert, die einer internen systematischen Regimekonkurrenz mit Blick auf die nationalen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Vorschub leisten. Ein zentrales Defizit der europäischen Integration liegt darin, dass eine solche "negative Integration" (Scharpf 1999) nicht ausreichend durch Maßnahmen einer "positiven Integration", das heißt einer Einrichtung entsprechender Regulierungsinstanzen in der Sozialpolitik auf EU-Ebene, ergänzt wird. Bei fortschreitender Integration des europäischen Binnenmarktes müssten sich Maßnahmen einer europäisch ausgerichteten Gewerkschaftspolitik auf die Erhaltung oder den Ausbau nationaler Arbeits- und Beschäftigungsstandards sowie deren Ergänzung, Verteidigung und Flankierung auf europäischer Ebene richten. Die größte Herausforderung hierbei ergibt sich für die nationalen Gewerkschaftsorganisationen aus der Notwendigkeit, für die Einflussnahme auf den Integrationsverlauf eine gemeinsame politische Linie zu formulieren (dazu Seeliger 2017). Vor allem vor dem Hintergrund der Erweiterungsrunden der Jahre 2004 und 2007 identifizieren wir für die Etablierung gemeinsamer Positionen im Feld der europäischen Gewerkschaftspolitik ein dreifaches Heterogenitätsproblem: Einerseits unterscheiden sich die Länder der EU mit Blick auf institutionelle Gegebenheiten wie Arbeitsrecht oder nationale Modi der Lohnfindung. Zweitens bestimmen auch auf der Ebene der einzelnen Organisationen nationale Entwicklungspfade die Struktur und den Umfang der jeweiligen Gewerkschaftsbewegungen, sowie deren ideologische Orientierung. Drittens schließlich unterscheiden sich die nationalen Gewerkschaftsbewegungen bezüglich ihrer Machtressourcen, wobei west- und nordeuropäische Gewerkschaften im Vorteil sind. Die Entwicklung gemeinsamer politischer Positionen erfolgt unter Bedingungen von Unterschiedlichkeit innerhalb dieser drei Dimensionen. Gemeinsame Positionen werden bei fortschreitendem Integrationsprozess für europäische Gewerkschaften nicht nur wichtiger, sondern auch schwieriger zu etablieren. "Hard times may result in strategic paralysis, but can also stimulate the framing of new objectives, new levels of intervention, and new forms of action" (Gumbrell-McCormick/Hyman 2013: 192) - prägnanter lassen sich Stand und Perspektiven europäischer Gewerkschaftspolitik unter Bedingungen der aktuellen Krise der Europäischen Union kaum auf den Punkt bringen. Denn wenn wir uns Zürn (2013: 413) zufolge mit der seit Jahren andauernden Eurokrise "inmitten eines ergebnisoffenen Prozesses der Politisierung der EU" befinden, so betrifft diese Diagnose - so wollen wir selbst argumentieren - nicht nur auch, sondern vor allem die Gewerkschaften als Interessenorganisationen der europäischen Lohnabhängigen. Wie die aktuelle Diskussion zeigt, variieren die Einschätzungen darüber, welche Rolle die europäischen Gewerkschaften innerhalb dieser Konstellation ganz grundsätzlich einzunehmen in der Lage sind, sogar unter den profiliertesten Vertretern einer politischen Soziologie der Arbeitsbeziehungen. Während etwa Jelle Visser (2012: 130) es für wahrscheinlicher hält, dass "21st century capitalism will be shaken up by banks rather than by trade unions", sieht das Forscherteam um Klaus Dörre (Dörre et al. 2016) in den Tarifauseinandersetzungen des Streikjahres 2015 "Rückenwind" für eine gewerkschaftliche Erneuerung. Zur Debatte steht nicht zuletzt, ob Gewerkschaften erstens in der Lage sind, als Agenten einer sozialen Integration auf der europäischen Ebene aufzutreten, und zweitens, ob dies in ihrem Interesse ist oder sein sollte. Diesen unter den Vertretern der sozialwissenschaftlichen EU-Forschung so unterschiedlich (vgl. für einen Querschnitt der Perspektiven (Rüb/Müller 2016; Seeliger 2017; Streeck 2013) ausfallenden Einschätzungen, die aktuell kaum in einer Synthese unterzubringen sind, widmet sich der vorliegende Band. In dieser Einleitung beschreiben wir den konzeptionellen Rahmen des Sammelbands, das heißt zunächst die spezifische Situation der europäische(n) Gewerkschaftsbewegung(en) im Prozess der europäischen Integration (2). Im darauffolgenden Abschnitt skizzieren wir unterschiedliche Perspektiven der Forschung (3). Dazu unterscheiden wir zwischen optimistischeren und pessimistischeren Beiträgen sowie gleichzeitig zwischen unterschiedlichen theoretischen Perspektiven. Abschließend stellen wir die Beiträge des Sammelbandes kurz vor und heben deren Beitrag zur skizzierten Debatte heraus (4). 2. Institutionenbildung und Abwehrkampf: Die Folgen der europäischen Integration für die Gewerkschaften Mit Blick auf die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Arbeitsbeziehungen im europäischen Kontext monieren Marginsson und Sisson (2004: XVI) einen traditionell stark strukturbetonten Fokus der vorliegenden Arbeiten. Während die Auseinandersetzung mit europäischen Gewerkschaften seit der Jahrtausendwende zwar ein allgemein größeres Augenmerk auf die Handlungspotenziale von Gewerkschaften gerichtet hat, lässt sich für die Analyse der politischen Bedeutung nationaler Gewerkschaftsorganisationen in der Europäischen Union auch heute noch ein stark international vergleichender Blickwinkel ausmachen, der - auf Grund seiner statischen Perspektive auf nationale Gegebenheiten -"Initiativen" vernachlässigt, die "deutli...

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