Beschreibung
Geht man der Frage nach, wo die geistigen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft liegen, stößt man auf die Kapitalismuskritik, die in den 1920er- und 1930er-Jahren gerade auch seitens der christlichen Konfessionen geübt wurde. In diesem Buch werden die Positionen wichtiger Protagonisten und Vordenker dieser Denkrichtung analysiert: Paul Tillich, Georg Wünsch, Karl Barth, Oswald von Nell-Breuning und Joseph Höffner. Daneben zeigt der Band exemplarisch, inwieweit die protestantische Sozialethik und die katholische Soziallehre Einfluss auf die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik genommen haben.
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Autorenportrait
Prof. Dr. Matthias Casper, Prof. Dr. Karl Gabriel und Prof. Dr. Hans-Richard Reuter forschen am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster.
Leseprobe
Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos-Kreises Erdmann Sturm Paul Tillich und der Kairos-Kreis Die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin hatte für das Wintersemester 1922/23 zu einer "politischen Arbeitsgemeinschaft" eingeladen. Nicht unterschiedliche Redner beliebiger politischer Richtungen sollten hier referieren, sondern es sollte "eine geschlossene Gruppe mit einheitlicher Grundrichtung sich darstellen und eine Grundanschauung allseitig durchführen". Gemeint war der Kreis der Blätter für Religiösen Sozialismus, der bald den Namen "Kairos-Kreis" erhielt. So sind die Referenten des politischen Seminars identisch mit dem Berliner Kairos-Kreis. Schon das Thema des Seminars - es lautete "Erneuerung des Sozialismus" - ließ erkennen, um was es diesem Kreis ging: um einen neuen Sozialismus, der den nach ihrer Auffassung auf das rein Ökonomische verengten, zur Orthodoxie erstarrten, bürokratischen Sozialismus überwinden sollte. Die Leitung des Seminars hatte der Privatdozent an der Berliner theologischen Fakultät Paul Tillich (1886-1965), der unbestritten der führende Theoretiker des Kairos-Kreises wie überhaupt des religiösen Sozialismus in Deutschland war. Er war die zentrale Integrationsfigur des Kreises, ein Meister der Vermittlung zwischen den unterschiedlichsten Standpunkten. Das Thema seines Referats ("Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte") zeigt an, in welchem geistigen Rahmen der neue Sozialismus konzipiert werden sollte. Als weitere Referenten wurden genannt: Carl Mennicke (über "Sozialismus in der religiösen Bewegung der Gegenwart"), Eduard Heimann (über "Der Rang der Wirtschaft"), Alexander Rüstow (über "Marxismus und Gemeinschaft" sowie über "Gestalterkenntnis als philosophische Grundlegung des Sozialismus"), Adolf Löwe (über "Soziologie der deutschen Geschichte" sowie über "Soziologie der Kunst") und Arnold Wolfers (über "Macht und Gemeinschaft in der Weltpolitik"). Den Abschluss bildeten Tillich und Mennicke mit dem Thema "Der Sozialismus als Wirklichkeit und als Aufgabe". Damit sind schon die wenigen Mitglieder des Berliner Kairos-Kreises genannt. Anfangs hatten auch der Berliner Pfarrer Günther Dehn und der Privatdozent für Neues Testament Karl-Ludwig Schmidt dazu gehört. Ein einheitliches Programm, dem jeder von ihnen hätte zustimmen können, hatte der Kreis nicht. Im Unterschied zu anderen religiös-sozialistischen Gruppen war er ein kleiner, elitärer Zirkel von Intellektuellen ohne Verbindung zur Kirche oder zum organisierten Sozialismus. Er wollte keine "Bewegung" sein oder anstoßen, sondern harte theoretische Arbeit leisten. Ihr Austausch- und Publikationsorgan waren die von Carl Mennicke herausgegebenen Blätter für Religiösen Sozialismus, eine aus wenigen Seiten bestehende Zeitschrift. Sie hatte nur eine geringe Verbreitung und hat von 1920 bis 1927 existiert. Als im Jahre 1925 Heimann als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Universität Hamburg und Tillich an die Universität Marburg berufen wurde, konnte der Kreis nicht mehr regelmäßig in Berlin zusammenkommen. Aber man traf sich immer wieder auf Tagungen und Konferenzen, so bei der Heppenheimer Konferenz 1928, wo Henrik de Man und Eduard Heimann zum Thema "Die Begründung des Sozialismus" sprachen. Tillich und Heimann waren auch die Herausgeber einer neuen Zeitschrift, der Neuen Blätter für den Sozialismus. Zeitschrift für politische und geistige Gestaltung, die - anders als Blätter für Religiösen Sozialismus - eine sozialdemokratische Zeitschrift sein wollte, aber eine geistige und politische Erneuerung des doktrinär erstarrten Sozialismus anstrebte. Sie hatte vor allem die "Mittelschichten" im Blick, die wie das Proletariat zu den Verlierern im System des Kapitalismus gehörten, dem Sozialismus aber distanziert, wenn nicht gar feindlich gegenüberstanden. Die Zeitschrift begann 1930 zu erscheinen. Tillich und Heimann verfassten für das erste Heft je einen programmatischen Aufsatz. Das letzte Heft erschien im Juni 1933. Zu diesem Zeitpunkt besaß die Zeitschrift eine Auflage von 10.000 Exemplaren, hatte also eine beachtliche Verbreitung. Dass der Kreis der Blätter für Religiösen Sozialismus bald "Kairos-Kreis" genannt wurde, geht darauf zurück, dass der damals modische Begriff "Kairos" - im Gegensatz zum negativen Begriff der "Krise" - das Zeit- und Geschichtsbewusstsein des Kreises kennzeichnete. Es war Mennicke, der den neutestamentlichen Begriff "Kairos" (das heißt der Fülle der Zeit) in die Debatte eingeführt hatte. Es sei die Grundtendenz des Sozialismus, so schrieb Mennicke, "alle Gebiete des Lebens, auch Wirtschaft und Politik, ganz ernst zu nehmen. [] Das ist der Sinn unserer scharf antibürgerlichen Haltung". Den Sozialismus nannte er "die zeitgeschichtlich bedingte Form des Kampfes gegen den Mammonismus" (S. 31). Auch Jesus habe den Mammon als "die irdische Inkarnation des Teufels empfunden". Der Mammon bzw. seine heutige Form, der Kapitalismus, sei deshalb der Teufel, "weil er bewusst und ausdrücklich gleichgültig und damit feindlich gegen das eigentliche Leben oder [] die Gemeinschaft ist" (S. 31). In einem programmatischen Aufsatz hat Tillich im Jahre 1922 den Kairos-Begriff aufgenommen und ihn zu einer zentralen geschichtsphilosophischen Kategorie geformt. Im Hintergrund des Begriffs, so schrieb Tillich 1926 in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes Kairos, steht "eine Deutung der Geschichte und dieses unseres geschichtlichen Augenblicks vom Übergeschichtlichen, Ewigen her. [] Unsere Auffassung ist historisch-dynamisch. Sie unterscheidet sich aber von der Lebensphilosophie und ihren Arten und Unarten dadurch, dass sie das Leben nicht aus sich und seinem bloßen Erscheinen zu verstehen sucht, sondern aus dem die Wirklichkeit tragenden und erschütternden Grund. Das gibt die Möglichkeit, den Relativismus zu durchbrechen und als Erkennender richtend und gestaltend dem Leben gegenüberzutreten." "Die Ethik der christlichen Liebe erhebt Anklage " (1919) Die ersten kapitalismuskritischen Äußerungen Paul Tillichs finden sich in der zusammen mit seinem Freunde, dem Berliner Jugendpastor Carl Richard Wegener, verfassten und 1919 publizierten Broschüre Der Sozialismus als Kirchenfrage. Beide Theologen hatten im Mai 1919 bei der USPD in Zehlendorf einen Vortrag über das Thema "Christentum und Sozialismus" gehalten und sich dafür eine Rüge der Kirchenleitung eingehandelt. Sie wandten sich daraufhin mit der genannten Schrift an die Kirche und die Öffentlichkeit. Sie setzen ein mit der These, dass das Christentum einerseits prinzipiell überkulturell und unabhängig von jeder politischen und wirtschaftlichen Ausprägung ist, andererseits konkret werden muss und nur dadurch konkret wird, dass es in bestimmten kulturellen Ausprägungen Ausdruck gewinnt. So sei es auch eins geworden mit den großen Formen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, so in der Spätantike mit der Sklavenwirtschaft, im Mittelalter mit der Naturalwirtschaft und Lehnsverfassung. Der Calvinismus sei in engste Verbindung getreten mit dem Kolonialkapitalismus und der Demokratie, die lutherische Kirche mit Agrarwirtschaft und absolutistisch-patriarchalischem Obrigkeitsstaat und in der Gegenwart die "moderne Kirche" mit Hochkapitalismus, Nationalismus und Militärstaat. Tillich rezipiert hier Ernst Troeltschs in den Soziallehren von 1912 vorgenommene Einteilung der Kirchen- und Sozialgeschichte samt ihrer Charakteristik. Beschränkt sich Troeltsch am Ende seiner Untersuchung auf die "Einsicht in die problematische Arbeit" angesichts des "harten Stoff[s] der sozialen Wirklichkeit", so erheben Tillich und Wegener eine mehrfache Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung der Gegenwart. Das Christentum, so behaupten sie, habe zu allen Zeiten und in all seinen Ausprägungen in der Liebesethik Jesu die "grundlegende Norm für das Gemeinschaftsleben" (S. 14) gesehen. Es habe darum für bestimmte Formen der Gesellschaftsordnung "eine größere Affini...