Beschreibung
Als Theorie des Guten fordert der Perfektionismus eine gelingende menschliche Entwicklung; als politische Philosophie stellt er Institutionen die Aufgabe, die Entfaltung der Individuen zu ermöglichen. Eine solche Politik steht heute allerdings unter liberalem Generalverdacht. Christoph Henning stellt die Debatten um den Perfektionismus erstmals umfassend dar und zeigt im Rückgriff auf radikale Denker von Jean-Jacques Rousseau bis Thomas Hurka, dass der Perfektionismus als zentraler Bestandteil des Projektes von Freiheit und Gleichheit zu begreifen ist.
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Autorenportrait
Christoph Henning ist Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und Privatdozent für Philosophie an der Universität St. Gallen.
Leseprobe
I. Einleitung Zu welchem Ende studiert man Perfektionismus? Perfektionismus im Sinne der politischen Philosophie bedeutet, dass es gehaltvolle Vorstellungen vom guten Leben gibt, nach denen Menschen sich in ihrer persönlichen Entwicklung richten sollen und sich zugleich, so die Unterstellung, immer schon richten, sonst wäre diese Ethik theoretisch nur als abstrakte Forderung, praktisch nur als Paternalismus möglich. Diese Theorie versucht somit die Kluft zwischen Sein und Sollen in einem Aristotelischen Sinne zu überbrücken. Gut in praktischer, nicht nur moralischer Hinsicht ist es, wenn Menschen ihre Anlagen in eine wün-schenswerte Richtung entwickeln (die Tradition nannte dies "Pflichten gegen sich selbst", Hurka 1993: 5), und wenn sie und die Institutionen andere Menschen dabei unterstützen, das zu tun (das wären dann Pflichten gegen andere). Welche Ziele dies sind, ob sie ganz oder nur annäherungsweise erreicht werden können und wie eine Förderung durch andere genau aussehen mag, darin unterscheiden sich verschiedene Versionen des Perfektionismus. Den Grundgedanken einer Entwicklung zum Guten teilen sie. Nach dieser Vorstellung steht am Ende dieses Strebens ein Zustand des nachhaltigen Glückes, des gelingenden oder blühenden Lebens (im Eng-lischen: "flourishing"), und nach diesem Gut streben letztlich alle Menschen. Das Kriterium dafür, ob eine solche persönliche Entwicklung gut verläuft oder nicht, ist eine im Prinzip feststellbare Größe. Das erlaubt Brückenschläge zur Sozialforschung. Der Begriff ist also abzugrenzen gegenüber der alltäglichen Verwendungsweise, die damit einen Habitus des Nie-Zufrieden-Seins bezeichnet. Ein perfektionistischer Maler betrachtet sein Werk ungern als vollendet und kann darum jahrelang an nur einem Gemälde arbeiten. Perfektionismus grenzt in diesem Verständnis an eine Pathologie, da das normale Leben so immer einen Schatten des Unvollkommenen erhält und die aktive Betätigung so gehemmt werden kann. Dieses Verständnis ist ebensowenig gemeint wie die Spekulation einer naturhistorischen Vervollkommnung des Menschengeschlechtes, wie sie heute im Horizont der Gentechnik als Horrorszenario auftaucht. Gemeint ist vielmehr die Theorie des menschlich Guten, die dieses als glücksför-derliche menschliche Entwicklung begreift und zugleich zum normativen Maßstab sozialer Institutionen kürt. Perfektionismus ist ein ungünstiger Titel dafür, wenn es suggeriert, es ginge darum, Menschen "perfekt" zu machen. Gerade dagegen haben sich Perfektionisten wie John Dewey oder Karen Horney gewandt, wie wir sehen werden. Falsch ist das insbesondere dann, wenn es religiöse Untertöne bekommt. Bei Aristoteles, der als zentraler Ideengeber gelten muss, besteht die Vollkommenheit des Glückes lediglich darin, das den Menschen Mögliche zu erreichen - und darüber hinaus lässt sich vernünftigerweise nichts wünschen. Das Glück als höchstes menschliches Gut genügt sich selbst (Aristoteles, NE 1094b7, vgl. 1097b7ff., 1102a15). Die menschliche Endlichkeit wird nicht zu überschreiten versucht, vielmehr wird das Streben auf erreichbare Ziele verwiesen, etwa: weg vom unendlichen Streben nach Reichtum, hin zu persönlichen Beziehungen. Dieser Gedanke findet sich noch in der Aufklärung: "Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als dass das Ding sei, was es sein soll und kann" (Herder 1793: 93). Moderne Varianten des Perfektionismus, etwa bei Dewey, haben sich zwar gegen Aristoteles' Vorstellung eines erreichbaren Zustands gewandt, bleiben wie er aber diesseitig gerichtet: "Not perfection as a final goal, but the ever-enduring process of perfecting, maturing, refining is the aim in living" (Dewey 1920: 141). Die konfliktgeladene Aristotelesrezeption des Christentums versuchte allerdings, dieses menschliche Glück als etwas Jenseitiges zu begreifen. Erst dieses Mischprodukt verleiht der Perfektionierung ihre scheinbare Hybris. Sich selbst gottähnlich machen zu wollen macht allerdings weder aus Aristoteles' Perspektive Sinn, da es ein unerreichbares Ziel wäre, noch - will man nicht pagan-magischen Praxen das Wort reden - aus christlicher Sicht: Keine Werkgerechtigkeit der Welt könnte dies vor Gott vollbringen. Christen können hoffen, dereinst erhöht zu werden, aber es nicht aus eigener Kraft erzwingen wollen. Selbst wo es im antiken Christentum Selbstvergöttlichungskonzepte gegeben hat (etwa bei Origines, der von theosis spricht), führen diese eher in die Mystik als in den ethischen und politischen Perfektionismus. Darum sei betont: Der Perfektionismus will Menschen nicht perfekt machen. Er möchte Menschen dazu ermuntern, sich und ihre Institutionen zu entwickeln und glücksförderliche praktische Ziele zu erreichen. Aristoteles begreift das als endliche Praxis, da die Möglichkeiten des Menschen endlich sind; Condorcet begreift es als potentiell unabschließbare Praxis, weil die Verbesserungsmöglichkeiten der Erzeugnisse des Menschen unendlich sind. Liest man es so, ist das nicht einmal ein Widerspruch. Um den Perfektionismus weiter einzukreisen, seien zwei seiner grundsätzlichen Annahmen vorausgeschickt: Erstens haben Menschen zwar eine bestimmte, allen ungefähr gemein-same natürliche Ausstattung, kommen mit ihrer Geburt aber nicht fertig auf die Welt. Sie müssen sich erst entwickeln, darum ist es ein Ziel, und keine vorfestgelegte Sicherheit, dass diese Entwicklung gut verläuft. Es ist nicht einmal festgelegt, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Merkmal ihrer natürlichen Ausstattung ist vielmehr eine ungeheure Plasti-zität und Vielseitigkeit. Arnold Gehlens Aussage, "der Mensch" sei das nicht festgestellte Tier, wird meist nur bis auf Nietzsche und Herder zu-rückverfolgt. Doch ein solches Denken findet sich bereits im 17. Jahrhundert, etwa bei Pufendorf, und ist dort eng mit dem Gedanken der menschlichen Perfektibilität verbunden (Rüdiger 2010). Die elliptische Aussage, dass Menschen eine Natur haben, die sie erst entwickeln müssen, kann allerdings auf zwei Weisen verfehlt werden: Falsch wäre sowohl die Folgerung, der Mensch sei durch seine Natur auf bestimmte Weisen zu leben festgelegt (das wäre ein beengender Naturalismus), als auch die, seine Entwicklung sei völlig beliebig (das wäre ein entmutigender Voluntarismus). Der perfektionistische Ansatz geht einen Mittelweg, indem er verschiedene Weisen der Entwicklung betrachtet und bewertend vergleicht. Zweitens kann ein Einzelner, gerade weil er oder sie unfertig geboren wird, eine solche Entwicklung nicht allein unternehmen ("it takes a village to raise a child"). Menschen sind nolens volens soziale Wesen - selbst Misanthropen haben diese ihre Eigenschaft in Bezug auf andere Menschen. Aus diesem Grund sind in perfektionistischen Theorien Ethik und Politik enger verklammert als in neueren liberalen Theorien. Nicht nur, weil das Leben in gelingender Gemeinschaft selbst etwas Gutes ist. Das wäre eine instrumentalistische Verkürzung, welche liberale Alarmlampen anwirft, weil sie eine Unterordnung legitimieren könnte. Sondern: Wenn Individuen eine gute Entwicklung nehmen wollen und sollen, es aber unmöglich allein können, ist es gut, wenn die Gemeinschaft die Individuen dabei unterstützt. Daher ist dann auch diejenige Gemeinschaft "gut", in der sich die Individuen gut entwickeln können: "Ideal society is the system of complementary, perfected individuals" (David Norton 1976: 181). Gut im perfektionistischen Sinn ist nicht nur die Entwicklung einzelner Menschen. Gesucht werden Anhaltspunkte für eine gute Entwicklung möglichst vieler Menschen, gerade angesichts der Vielfalt an Entwicklungswegen sowie an Leiden unter versäumter oder von anderen verhinderter Entwicklung. Eine Gemeinschaft, die an der Entwicklung der Menschen interessiert ist, muss allerdings eine Vorstellung davon haben, was eine gute Entwick-lung ist und was die entsprechenden Mittel wären, die ein Individuum bzw. die Gesellschaft dafür braucht. Der Perfektionismus ist als Versuch einer Antwort auf diese ...