Beschreibung
Welche Rolle spielten die sozialen Medien - insbesondere Facebook und Twitter - bei der transnationalen Empörung nach der Finanzkrise? Das Buch analysiert diese Frage anhand der Proteste in Portugal, Spanien, USA, Großbritannien und Deutschland. Die Ergebnisse bringen Aufschluss, wie transnational die Kommunikation der Protestbewegungen in den Jahren 2011 und 2012 ausgerichtet war. Zudem wird deutlich, wozu die Aktivisten das Netz nutzten: zum inhaltlichen Diskurs, zur Organisation des Protests oder zur Verbreitung von Emotionen. Mit einem Vorwort von Bodo Hombach
Autorenportrait
Marianne Kneuer ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim. Saskia Richter, Dr. disc. pol., war dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Leseprobe
1. Einleitung Möglicherweise wird das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als Jahrzehnt der Protestbewegungen in die historische Betrachtung eingehen. Derzeit sind überall auf der Welt partizipative Schübe zu beobachten. Ausgelöst wurde diese Phase breiter Bürgerproteste in Tunesien im Dezember 2010, von wo aus sie in die arabische Welt hinwirkten mit freilich ganz unterschiedlichen Resultaten: Systemumbrüche und politische Neuanfänge in Tunesien und Ägypten, Bürgerkriege in Libyen und Syrien, während in Bahrein und Jemen die Machthaber relativ rasch wieder die autoritäre Kontrolle erlangten oder in Marokko und Jordanien, die Bürger mit kosmetischen Veränderungen ruhig zu stellen versucht wurden. Bei den Aufständen des Arabischen Frühlings erwiesen sich vor allem zwei Protestformen als charakteristisch und besonders effektiv sowohl, um die autoritären Machthaber im Land und der Region unter Druck zu setzen als auch, um internationale Aufmerksamkeit zu erlangen: das Besetzen zentraler Plätze und die intensive Nutzung sozialer Medien durch die Aktivisten. Die massenhaften Ansammlungen auf zentralen Plätzen der Städte wie dem Tahrir-Platz in Kairo wurden zu einem symbolgeladenen Akt des Kampfes für einen freien öffentlichen Raum. Zugleich schufen die Protestierenden einen virtuellen Raum über digitale Medien und nutzen vor allem die sozialen Medien Facebook und Twitter, um ohne Zugriff durch die Herrschaftsstrukturen zu kommunizieren, die Aktionen zu koordinieren und dafür zu mobilisieren. Die Proteste im arabischen Raum strahlten rasch in den Kreis etablierter Demokratien aus und inspirierten zunächst im nahen Südeuropa Bürgerbewegungen von Empörten (Indignados), die sich vor allem in Bezug auf zwei diese prägenden Formen - die Ansammlung der Massen auf zentralen Plätzen sowie die Nutzung sozialer Medien - an die arabischen Antagonisten anlehnten. So fanden sich in Portugal am 12. März 2011 rund 200.000 Menschen auf dem Rossio-Platz in Lissabon zusammen, um ihre Unzufriedenheit gegenüber der politischen Klasse im Allgemeinen, der Regierungspolitik im Zuge der Verschuldungskrise und ihrer Verzweiflung ob der fehlenden Zukunftsperspektiven Ausdruck zu geben (Fonseca 2012). Prominenter wurde allerdings die Zeltstadt - für die das spanische Wort Acampada inzwischen sprichwörtlich geworden ist - auf dem zentralen Platz Puerta del Sol in Madrid und der Plaça de Catalunya in Barcelona. Sowohl das Besetzen der Plätze als auch die Zeltlager wurden in anderen spanischen und portugiesischen Städten sowie darüber hinaus nachgeahmt - so in Griechenland auf dem Syntagma-Platz in Athen, in Italien und in Tel Aviv auf dem Rothschild-Boulevard, wo im September 2011 die größte Massenproteste in der Geschichte des Landes stattfanden (Nathanson 2011) -, bevor die Idee dann im Oktober in die USA schwappte. Dort lehnte sich Occupy Wall Street mit der Besetzung des New Yorker Zucotti-Platzes im Wall Street-Bezirk an das spanische Vorbild der Acampada an und übernahm auch die in Spanien praktizierten versammlungsdemokratischen Elemente, die asambleas (Mörtenböck, Mooshammer 2012; Motha 2012; Gamson 2013). Anschließend diffundierte die Protestidee von Occupy zunächst nach Europa, danach nach Asien und Australien. Nach dem Arabischen Frühling, dem Europäischen Sommer und dem Amerikanischen Herbst, wie Gerbaudo (2012: 11) es ausdrückt, setzte sich das Muster fort, öffentliche Räume - offline wie online - zu besetzen, um Protest Ausdruck zu geben. So flammten 2013 neue Bewegungen auf: gegen das Bauprojekt im Gezi-Park, das mit der Besetzung des Taksim-Platzes in Istanbul beantwortet wurde und die Auseinandersetzungen über den Bau von Stadien vor der Fußball-WM in Brasilien seit dem Sommer 2013. Auch die Besetzung des Majdan in Kiew, mit dem die pro-europäischen Ukrainer im Herbst 2013 gegen die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommen mit der EU protestierten, wurde zu einem Synonym des politischen Widerstandes gegen eine autokratische Regierung (Rühle 2014) ebenso wie das Ringen um demokratische Wahlen in Hongkong ein Jahr später. Gegenstand dieses Buches sind die Empörungsbewegungen, mit der diese Protestwelle begann. Das Jahr 2011 stellt zweifelsohne einen Markstein in der Entwicklung der sozialen Bewegungen dar. Nicht ohne Grund kürte das Magazin Time "The Protester" zur Person des Jahres. Auch wenn Proteste kein neues politisches Phänomen sind, so verkörpern die Bewegungen von 2011 (und auch die der folgenden Jahre) einige Spezifika, die in der Wahrnehmung von Politik und Öffentlichkeit als etwas "Neues" verbucht wurden. Bemerkenswert war allein die Akkumulation von Protesten weltweit durch die schnelle Diffusion der Idee, der Unzufriedenheit Luft zu machen, ebenso aber die Verbreitung von markanten Protestelementen, die hohen Wiedererkennung- und Identifikationswert erlangten - wie etwa die Besetzung von Plätzen oder die Übernahme bestimmter Symbole und Memes. Vor allem aber rückten die sozialen Medien - zuvorderst Facebook und Twitter als meist genutzte Anwendungen - in den Blickpunkt als diejenigen Kommunikationstechnologien, die den Unterschied zu anderen vorherigen Bewegungen zu machen schienen. Sie ermöglichten nicht nur jene schnelle Verbreitung von Informationen, Fotos, Videos und Symbolen. Wie auch schon im Zuge des Arabischen Frühlings fungierten soziale Medien als Werkzeuge der Mobilisierung und zur Organisation der Protestaktionen, von konkreten Details vor Ort, etwa zur Verpflegung in den Zeltstädten, bis hin zu globalen Solidaritätsbekundungen. Es fragt sich jedoch, wofür die Empörungsbewegungen soziale Medien jenseits von Mobilisierung und Organisation der Proteste nutzten. Wir wissen wenig darüber, welche kommunikativen Zwecke vor allem die relevantesten Plattformen Facebook und Twitter erfüllten. Zwar ist in der Zwischenzeit eine Vielzahl an Publikationen zu den Protesten seit 2011 erschienen, die meisten jedoch beschränkten sich auf einzelne Länder, etliche stützen sich zudem eher auf deskriptive oder phänomenologische Beobachtungen und weniger auf systematische Analysen. Bislang gibt es wenig differenzierte Kenntnisse über die Kommunikation der Aktivisten, vor allem über deren inhaltliche Ausprägung. Des Weiteren fehlen konzeptionelle Ansätze zur Untersuchung der Online-Kommunikation der Empörungsbewegungen. Diese Studie füllt daher eine Lücke, denn sie unterzieht die Inhalte der Online-Kommunikation der Empörungsbewegungen einer systematischen Untersuchung und dies in einer vergleichenden Analyse von fünf Fallbeispielen. Diese Analyse erfolgt auf der Grundlage eines Analysekonzeptes, das wir zur Untersuchung der Funktionen von Online-Kommunikation einführen. 1.1 Von Tahrir bis Occupy - Ein neuer Typ von Protestbewegung? Zunächst aber tut freilich Differenzierung not, denn diese genannten Protestbewegungen von 2011 fortfolgende unterscheiden sich in einigen zentralen Punkten; zum einen in Bezug auf den Entstehungshintergrund und zum anderen im Hinblick auf die drei Prinzipien, die Alain Touraine (1965) klassischerweise für soziale Bewegungen definiert: die Prinzipien identité, opposition und totalité, in Castells Worten umformuliert in die Selbstzuschreibung der Bewegung, den explizit identifizierten Hauptfeind und die Ziele, also die Vision von der sozialen Ordnung, die die Bewegung mit ihrer kollektiven Aktion zu erreichen sucht (Castells 1997: 71). Entlang diesen Kriterien ergeben sich deutliche Differenzen zwischen den einzelnen Bewegungen. So bildet der Hintergrund für die Umsturzbewegungen im arabischen Raum die verkrusteten, jahrzehntelangen Diktaturen, die vor allem den jungen Menschen ihrer Länder keine Perspektiven mehr boten. Den Hauptfeind stellte somit die Herrscherkaste um Ben Ali, Mubarak etc. dar. Die Ziele bestanden in dem Umsturz dieser Diktaturen verbunden mit dem Wunsch, demokratische Systeme zu etablieren, die zugleich mehr Wohlstand und Gerechtigkeit versprachen. Anders als beim Arabischen Früh...