Beschreibung
InhaltsangabeInhalt Einleitung: Die Ambivalenz des Schlafens und die Geschichte der Moderne7 Hannah Ahlheim Wenn sich die Seele "ihrer Gewalt über die Maschine nicht bedienen" kann: Der Schlaf in Aufklärung und Romantik25 Sonja Kinzler Die helle Seite der Träume: Schlaf und Traum um 180037 Ingo Uhlig Halbschlafbilder: Zur Ästhetik des Kontrollverlusts51 HansWalter SchmidtHannisa Über Wachen und Schlafen: Medizinische Schlafdiskurse im 19. Jahrhundert73 Philipp Osten Schlafen am Waldensee: Thoreau, abnormale Temporalität und der moderne Körper99 Benjamin Reiss Wer kürzer schläft, ist länger tot? Italo Svevo und der Neovitalismus um 1900131 Marie Guthmüller Experimentieren mit konsolidiertem Schlaf: Nathaniel Kleitman und die Herstellung moderner zirkadianer Rhythmen153 Matthew WolfMeyer Macht über den Schlaf: Vom Experimentieren mit Schlafentzug in den USA im 20. Jahrhundert183 Hannah Ahlheim Schlafforschung heute: Entwicklungen, Techniken und Motivationen der Praxis209 Thomas Penzel Autorinnen und Autoren227 Dank231
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Autorenportrait
Hannah Ahlheim, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Göttingen.
Leseprobe
Einleitung: Die Ambivalenz des Schlafens und die Geschichte der Moderne Hannah Ahlheim "Es sieht so aus, als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu einem Drittel sind wir überhaupt ungeboren. Jedes Erwachen am Morgen ist dann wie eine neue Geburt." Mit diesen Worten beschrieb Sigmund Freud vor fast 100 Jahren unseren allnächtlichen Schlaf. Die einfache Tatsache, dass der Mensch ein Drittel seiner Lebenszeit verschläft, gehört auf die erste Seite nahezu jeder Veröffentlichung zum Schlaf. Doch in Freuds vielzitiertem Satz steckt mehr als die Feststellung, dass jeder Mensch viel Zeit mit Schlafen verbringt. Im Schlaf, das legen Freuds Worte nahe, verlässt der Mensch für einige Stunden die Welt des Wachseins und des Erwachsenseins. Er ist in diesen Stunden so gut wie "ungeboren", in einem Zustand also, den jeder Mensch erfahren hat und der sich doch dem Bewusstsein und der Erinnerung entzieht. Nicht umsonst ist Hypnos, der Schlaf, in der griechischen Mythologie der Zwillingsbruder des Todes. Der Schlaf ist aber nicht nur für den wachenden Geist unzugänglich und unfassbar, im Schlaf brechen sich auch Ängste, Wünsche und Irratio-nalität Bahn, die der Mensch nicht beherrschen kann. Gespenster nehmen Gestalt an, Phantasien werden erfahrbar und fühlbar, der Traum scheint Wege zu öffnen in innere Welten, die dem wachen Individuum nicht zu-gänglich sind. Die (Angst-)Phantasie, dass der Mensch im Schlaf und Traum die Herrschaft über sein Inneres verlieren könnte und damit an-greifbar wird, begeistert auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Millio-nenpublikum: Der Protagonist des Hollywood Blockbusters Inception war 2010 im Auftrag des US-Militärs unterwegs, um Menschen durch heim-liches gemeinsames Träumen ihre Geheimnisse zu entreißen und ihnen Gedanken "einzupflanzen", die auch ihr waches Handeln bestimmen sol-len. Entzieht sich also ein Drittel unseres Lebens der rationalen Wahr-nehmung, verliert der Mensch zwangsläufig allnächtlich seine Bewusstheit, seine Entscheidungsgewalt? Der enge Zusammenhang zwischen dem Schlaf und der Erfahrung des Kontrollverlusts wird jedoch nicht nur während des Schlafens selbst erkennbar, wenn das Bewusstsein erlischt. Vielmehr kann der Mensch auch den Vorgang des Einschlafens, Durchschlafens und Ausschlafens nicht wirklich steuern. "Wir können den Schlaf nicht direkt kontrollieren", das stellte der an der Universität Tübingen beschäftigte Neurowissenschaftler und Schlafforscher Jan Born in einem Interview im Jahr 2013 fest. Schlaf lasse sich nicht erzwingen, er funktioniere nach seinen eigenen Regeln, die die Wissenschaft noch immer nicht entdeckt und verstanden habe. Man könne daher letztlich nur versuchen, empfahl Born, dem Schlaf gegenüber "ein gelassenes Verhältnis zu entwickeln". So ein "gelassenes Verhältnis" zum Schlaf scheint allerdings nicht ein-fach zu haben zu sein. In westlichen Industriegesellschaften ist die Angst vor einem Verlust und den Störungen des Schlafes omnipräsent. Experten schreiben über die "unausgeschlafene" oder "schlaflose Gesellschaft", Schlafstörungen gelten als ernstzunehmende "Zivilisationskrankheit", die große Teile der Bevölkerung angreift; die Schlafmedizin hat sich als eigenständiges Feld etabliert. Jedes Jahr erscheinen unzählige Feuilletonartikel, Sonderhefte und Sonderbeilagen zum Thema Schlaf, tausende Ratgeber, Internetseiten, Fernseh- und Radiosendungen geben Tipps, wie man "richtig" und "gut" schläft. Verschiedenste Hilfsmittel sollen helfen, den "gesunden" Schlaf wieder zu finden, Therapien, Medikamente, teure Matratzen, Kopfkissen und Schlafzimmereinrichtungen versprechen den "gesunden Schlaf", und Handy-Apps sollen den perfekten Zeitpunkt fürs Aufwachen errechnen. "Richtig" schlafen ist eine wichtige Aufgabe im gesellschaftlichen Alltag, der der Einzelne viel Energie widmen kann - dabei wissen wir noch nicht einmal genau, warum wir eigentlich überhaupt schlafen, gab der Schweizer Schlafexperte Alexander Borbély noch 2005 zu. Schlafen scheint also in vielerlei Hinsicht einen Verlust von Kontrolle mit sich zu bringen, es nimmt den Menschen regelmäßig "aus der Welt" und beraubt ihn seines Bewusstseins. Gleichzeitig ist er aber für jedes Le-bewesen ein lebensnotwendiges, ganz konkretes und sehr "weltliches" Be-dürfnis, das das Alltagsleben prägt. Jeder Mensch braucht Schlaf, und jede Gesellschaft muss dem Einzelnen Zeit und Raum für seinen Schlaf zur Verfügung stellen. An der Schlafkultur einer Gesellschaft hängen dabei nicht nur das Lebensglück und die Gesundheit des Einzelnen, Schlaf ist auch wichtige "Ressource". "Die Bedeutung des Schlafs" sei in unserer 24-Stunden-Gesellschaft "unterschätzt", warnte im Jahr 2000 etwa der Schlafforscher Jürgen Zulley auf einem Symposium zum Thema "Schlaf und Ökonomie". Die "chronologischen Bedürfnisse" des Menschen, hält er fest, müssten "sorgfältig eingeplant" werden in die Abläufe des Alltags, sonst seien "Gesundheit, Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt". Mit der Erfahrung des Verlusts von Kontrolle geht damit auch der Wunsch nach einem kontrollierten Schlaf einher, der die Bedürfnisse des Einzelnen erfüllt und dennoch "einplanbar" ist in den Ablauf des sozialen und ökonomischen Lebens. Am schlafenden Menschen werden Organi-sationsmuster und Machtverhältnisse verhandelt, die für das Funktionieren einer Gesellschaft entscheidend sind, und bei der Beschäftigung mit dem Schlaf geraten Grundstrukturen und Grundkonflikte menschlichen Zusammenlebens in den Blick. Der Ort und die Zeit, die dem Schlaf im Alltag zugewiesen werden, geben etwa Aufschluss darüber, welche Verfügungsgewalt der Einzelne hat über seine Bedürfnisse, seine Träume, seine Gesundheit und seine Arbeitskraft. Die Debatten, die Experten, Wissenschaftler, Ärzte, Theologen, Politiker und "Jedermann" um den Schlaf führen, zeigen, welche Vorstellungen vom Menschen, von seinem Wesen, seinem Körper, seiner Seele, seinem Gehirn, seinem Bewusstsein und seinem Willen vorherrschen. Während der Schlaf lange vor allem Gegenstand der medizinischen, psychiatrischen und biologischen Forschung war, haben in den letzten Jahren auch Sozial- und Geisteswissenschaftler entdeckt, dass die Erfor-schung des Schlafs als soziales, kulturelles, politisches und ökonomisches Phänomen Rückschlüsse zulässt auf den Alltag, die Organisation und die Grundmuster einer Gesellschaft. Sie untersuchen daher die verschiedenen Schlafkulturen der Welt, fragen nach der kulturellen, sozialen und poli-tischen Bedeutung des Schlafs in den jeweiligen Ländern und Kulturen und begründen die Relevanz des Themas für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Es sind erste Arbeiten erschienen, die eine Geschichte des Schlafs in verschiedenen Epochen begründen und versuchen, durch die Rekonstruktion dieser Geschichte grundlegende Erkenntnisse über vergangene Lebenswelten zu gewinnen. Hinzu kommen einige wenige meist kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte des Bettes und des Wohnens und zur Geschichte der Nacht und der Großstadt, die ebenfalls Anknüpfungspunkte für eine Geschichte des Schlafs bieten. Die historischen Arbeiten, die sich mit dem Schlaf und dem Traum beschäftigen, legen ihren Schwerpunkt auf die Geschichte der europäischen und nordamerikanischen Kulturen. Viele Studien nehmen dabei insbesondere den Wandel des Schlafs im Laufe des "Zivilisationsprozesses" und im Übergang von vormodernen in "moderne" Zeiten in den Blick und orientieren sich an den Periodisierungen einer Geschichte der westlichen Industriegesellschaften. Öffentlich wahrgenommen wurden in letzter Zeit die Thesen des US-amerikanischen Historikers Roger Ekirch, der eine erste Arbeit zur Geschichte des Schlafs in der Neuzeit verfasst hat. Ekirch interpretiert das heute gängige Verständnis vom Schlaf als Phänomen der industrialisierten Welt: Bis ins 18. Jahrhundert hinein, so Ekirch, sei ein wesentlich flexiblerer, zweigeteilter "vorindustrieller" Nachtschlaf verbreitet gewesen, und i...
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Erste interdisziplinäre Geschichte des Schlafs