Beschreibung
»Erkenne dich selbst!«, forderte einst das Orakel von Delphi. Und so sind wir auch heute noch unaufhörlich damit beschäftigt, unser wahres Selbst zu suchen, zu seinem echten Ausdruck zu bringen, zu erweitern oder zu verbessern. Doch die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft zeigen: Das »Ich« ist eine bloße Konstruktion.
Produktsicherheitsverordnung
Hersteller:
Campus Verlag GmbH
Julia Berke-Müller
info@campus.de
Kurfürstenstr. 49
DE 60486 Frankfurt
Autorenportrait
Werner Siefer, Diplom-Biologe, (Jahrg. 1964), und Christian Weber, Politologe, (Jahrg. 1966) arbeiten beide seit mehreren Jahren als Redakteure im Ressort Forschung und Technik des Nachrichtenmagazins Focus. Siefers Spezialgebiete sind Hirnforschung, Life Sciences, Evolution, Anthropologie und Archäologie. Weber ist auf Psychologie, Psychiatrie, Verhaltensforschung und Gesellschaftswissenschaften spezialisiert.
Leseprobe
Kapitel 3 Wissenschaftler in Windeln Babys entdecken die Welt und sich selbst Isabella hat ein kleines, hübsches Mondgesicht. Auf ihrem winzigen Körper sitzt ein etwas zu großes Köpfchen, in dessen Gesicht sich pralle runde Pausbäckchen wölben. Jeder Augenaufschlag scheint das sieben Monate alte Mädchen Mühen zu kosten, und so wackelt sie unkoordiniert, statt sich kontrolliert zu bewegen. Isabella erweckt so nicht den Eindruck, auch nur irgendetwas zu kapieren, was um sie herum passiert, wären da nicht ihre wachen Augen und die einem Fernsehstudio ähnelnde Umgebung Das Kind sitzt vor einem Videoschirm mit einem Eye-Tracker, wie er zum Beispiel Marktforschern dient, die Wirkung ihrer Werbefilme zu diagnostizieren. Das Gerät hält fest, wie sich die Augen des niedlichen Saugnapfs in jedem Moment bewegen. Mehrere Kameras in dem dezent mit taubenblauen Vorhängen ausgekleideten Raum übertragen außerdem das wirr wirkende Hampeln des Babys ins Nebenzimmer. Dort, abgetrennt durch einen halbdurchsichtigen Spiegel und schallisoliert, ist eine Art Regie aufgebaut: mehrere Bildschirme, ein Pult mit Reglern, Aufzeichnungsgeräte, ein helfender Techniker, der dafür sorgt, dass dies alles funktioniert. "Schau mal!", fordert die Stimme aus dem Lautsprecher die in Windeln verpacke Probandin auf. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Ganz gespannt ist der kleine Körper im Kindersitz plötzlich, als Isabella den eingespielten Videofilm verfolgt; ihre Augen sind blau, klar, wach, lebendig und voller Neugier. Die Mutter hockt unterdessen auf einem Stuhl daneben und passt auf, dass es dem Kind gut geht. "Schau mal!", ruft die Anweisung vom Band erneut und leitet so vor dem immer noch konzentriert blickenden Säugling den zweiten Durchlauf derselben Szene ein: Zwei erwachsene Frauen, die mit einem kleinen grünen Modellauto aus Plastik spielen, indem sie es einfach auf dem weißen Tisch entlangschieben. Am Steuer des Autos sitzt ein gelber Bär. Das geht ein paarmal so, bis sich Isabella langweilt. Das ist daran zu erkennen, dass sie der Vorführung nicht mehr folgt und sich Neuem zuwendet. Zwei andere kurze Versuche schließen sich an, und nach nicht einmal zwei Minuten ist der Einsatz als Versuchskind vorbei. Im Nebenraum ist das Video fertig. Sein Titel: Die sieben Monate alte Isabella und wie sie lernt, die Welt zu verstehen. Die Regie führte die Entwicklungspsychologin Gisa Aschersleben vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften im Münchener Stadtteil Schwabing. Der Zwei-Minuten-Streifen wird für das Kind und seine Eltern ein hübsches Andenken, zusammen mit einer "Ich-war-dabei!"-Urkunde fürs Spielzimmer sowie dem Dank, dass die Kleine "bei der Erforschung der kindlichen Entwicklung geholfen" hat. Wie das ging, das ist ihr jetzt nicht bewusst und das wird sie auch in einigen Jahren nicht mehr wissen - sie hat einfach verwendet, was die Biologie ihr an Werkzeugen mitgegeben hat. Lernen, die Welt zu verstehen Die Details der ungeheuerlichen kindlichen Lernfähigkeit entziehen sich auch den Psychologinnen der Max-Planck-Kinderstudie. Gemeinsam mit ihren Helfern sitzen sie oft stundenlang über der Auswertung von Videofilmen, die etwa die Interaktion von Mutter und Kind zeigen, damit ihnen auch Kleinigkeiten des komplexen Miteinanders nicht entgehen. Die Zeitlupen und Wiederholungen ermöglichen, das zu erfassen, wofür der naive Beobachter keinen Blick hat. Was wie eine heimelige Szene aussieht, die täglich und vielfach auf zahllosen Spieldecken stattfindet und die wir alle zu kennen glauben, ist für ein Baby ein Turbo-Lehrgang im Menschwerden. Es heißt, in den ersten Lebensjahren lerne ein Kind mehr als jemals später im Leben. Wenn das richtig ist, dann geht es unauffällig vor sich: Schnell sind die Blicke, mit denen der Säugling abschätzt, ob ihm seine Mutter etwas Interessantes anbietet, rasch ist ein Dino zur Seite geworfen, wenn aus einer Spieluhr eine Melodie erklingt. Kurz wird geguckt, wie Mama das daraus e
Inhalt
Inhalt Vorwort: Warnung vor Nebenwirkungen 7 1.Das zerbrechliche Selbst9 Die psychiatrische Klinik als philosophische Anstalt 2.Kleine Geschichte des Ichs35 Unsere Vorfahren wurden klüger und lernten symbolisches Denken 3.Wissenschaftler in Windeln61 Babys entdecken die Welt und sich selbst 4.Baustelle Ich78 Wie wir unsere Persönlichkeit zimmern 5.Ich kann auch anders102 Mode, Musik und soziale Identität als Inszenierung 6.Erfundene Erinnerungen125 Das Gedächtnis fabuliert von der Geschichte unseres Lebens 7.Der automatische Mensch173 Wieso unsere Freiheit nicht grenzenlos ist 8.Die Illusion, jemand zu sein195 Neurowissenschaftler und ihre Suche nach dem Selbstbewusstsein 9.Himmel im Hirn267 Die mystische Antwort auf das Ich-Problem 10.Was aber sollen wir tun?291 Leben mit der Ich-Krise Literatur297 Register302
Schlagzeile
Das Ich ist eine Illusion