Beschreibung
Wie wächst man auf als Sohn Baldur von Schirachs, eines der führenden Nationalsozialisten? Richard von Schirach berichtet zum ersten Mal von seiner Jugend in Bayern, von seiner Mutter, die sich scheiden ließ und die Kinder in Internaten unterbrachte, von den wenigen Besuchen, die ihm bei seinem Vater im Allied Prison in Berlin Spandau gestattet waren. Und von den Briefen: 1080 hatte der Vater bis zum Ende der Haft geschrieben. Seine Rolle in der nationalsozialistischen Diktatur hat er allerdings immer ausgespart. Eine beispielhafte deutsche Familiengeschichte, die anschaulich zeigt, warum 1945 noch lange nichts zu Ende war.
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Leseprobe
Spandau 1953 1953 sollte ich erstmals meinen Vater in Spandau sehen. Weil der Termin in die Unterrichtszeit fiel, wandte ich mich an meinen Klassenleiter, um ihm mit gesenkter Stimme mitzuteilen, daß ich drei Tage frei bräuchte, um meinen Vater in Berlin zu besuchen. Die genauere Bezeichnung -im Gefängnis- vermied ich. Ich fühlte mich so unbehaglich dabei, als müßte ich ein verborgenes körperliches Gebrechen preisgeben, um vom Schwimmunterricht befreit zu werden. Natürlich war er im Bilde. -Du mußt dich deswegen nicht schämen-, richtete er mich wieder auf. -Dein Vater war ein Idealist, er hat nichts Ehrenrühriges getan. Deutschland hat den Krieg verloren...-. Endlich war ich also an der Reihe und würde mitreden können, ohne auf die Berichte und Erzählungen meiner Geschwister angewiesen zu sein, die schon jene unbekannte Gefängnisschleuse, die uns von unserem Vater trennte, durchschritten hatten und nach ihrer Rückkehr aus Berlin etwas Ungesagtes davon mitgebracht hatten, das sie wie ein Geheimnis zu hüten schienen. Dem Unternehmen sah ich voller Erwartung, aber auch nicht ohne Beklommenheit entgegen. Das Bedürfnis jedoch und die Neugier, meinen Vater, dessen Bild seit Jahren nur in meiner Phantasie lebte, endlich einmal in Fleisch und Blut vor mir zu sehen, in seine Augen zu blicken und seine Stimme zu hören, überwog am Ende alles. Ich wollte ihn unbedingt sehen und war bereit, dafür alles in Kauf zu nehmen. Endlich würde er Gestalt annehmen! Die Vorstellung, den oft besprochenen Besuch wieder abzusagen oder um ein Jahr zu verschieben, war unerträglich. Ich durfte ihn nicht im Stich lassen! Ich war mit elf Jahren der jüngste Besucher, den das Allied Prison je erwartete. Es gab andere Mithäftlinge, wie Speer, die ihren Kindern diese Begegnung ersparen wollten, oder Hess, der es mit seinem Ehrbegriff nicht vereinbaren konnte, seinem Sohn als Gefangener gegenüberzutreten, und ihn achtundzwanzig Jahre warten ließ. Die bevorstehende Begegnung war in der Familie jedoch nicht unumstritten und stand noch unter dem Schatten eines Besuches, den mein Bruder Klaus einige Wochen zuvor in Spandau absolviert hatte. Dabei war es im Gespräch zu einer Szene gekommen, die meinen achtzehnjährigen Bruder zu Tränen gerührt hatte. Eine Illustrierte berichtete daraufhin, daß er von Weinkrämpfen geschüttelt seinem durch ein Gitter von ihm getrennten Vater gegenübersaß. Meine Mutter meldete danach Bedenken an, ob mir dieser Besuch überhaupt zugemutet werden könne. -Er hat nicht geheult - Quatsch!-, wiegelte mein Onkel Heini ab - und versuchte, den dramatischen Eindruck zurechtzurücken. -Zwei Tränen sind ihm beim Sprechen runtergekullert - das war alles-, schrieb er mit der Empfindsamkeit eines Flußpferdes und gab für die bevorstehenden Besuche der jüngeren Söhne seine Diagnose ab: -Robert und Richard scheinen mir nicht so sensibel.- Solche Überlegung hinterließen auch bei meinem Vater ihre Spuren, der sich der Belastung bewußt war, die ein solcher Besuch für einen jungen Menschen bedeuten konnte, und er äußerte sich dazu in einem Brief an meine Tante Annemutz, die mich auf der Reise und ins Gefängnis begleiten sollte: -Bei unserer Begegnung ist Richard die Hauptperson und Du nach deinem Willen die stille Teilnehmerin, eine herzliche stille Teilnehmerin, wie du das so schön ausgedrückt hast. Gewiß: ein Sohn kommt zu seinem Vater, das ist das Ereignis, vor dem wir selbst zurücktreten... ein kleiner Junge kommt nach vielen Jahren, in denen er seinen Vater nicht gesehen hat und in deren Verlauf das Bild dieses Vaters fast völlig verblaßt sein muß, nach einer langen Reise in eine völlig zerstörte Stadt, in ein riesiges, von fremden Soldaten bewachtes Gefängnis, in ein kleines Zimmer, wo fremde Personen sind, und sieht dort hinter einem Gitter einen Mann, der zu ihm spricht und sein Vater ist. Wir beide, Du und ich, sind nur dazu da, das Ungeheure zu überwinden, das die Seele eines Kindes bei einer solchen Begegnu ... Leseprobe