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Autorenportrait
Jorge Luis Borges wurde 1899 in Buenos Aires geboren und starb 1986 in Genf. Sein erster Gedichtband erschien 1923. Borges erhielt zahlreiche internationale Ehrungen. Sein Gesamtwerk erscheint im Carl Hanser Verlag.
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Das Rätsel der Dichtung
Zu Beginn möchte ich Sie anstandshalber auf das vorbereiten, was Sie von mir erwarten - oder genauer: nicht erwarten - können. Ich stelle fest, daß mir schon beim bloßen Titel dieses ersten Vortrags ein Fehler unterlaufen ist. Wenn ich mich nicht irre, lautet der Titel "Das Rätsel der Dichtung", und natürlich liegt die Betonung auf dem ersten Wort, "Rätsel". Sie könnten also meinen, das Rätsel sei das allerwichtigste. Oder Sie könnten annehmen, was noch schlimmer wäre, ich hätte mich dazu verstiegen zu glauben, ich hätte irgendwie die richtige Lösung des Rätsels entdeckt. In Wahrheit habe ich keine Offenbarungen anzubieten. Ich habe mein Leben damit verbracht, zu lesen, zu analysieren, zu schreiben (oder mich am Schreiben zu versuchen) und zu genießen. Ich fand, daß letzteres das wichtigste von allem war. Indem ich Dichtung "geschlürft" habe, bin ich nicht zu einem endgültigen Schluß gelangt. Tatsächlich habe ich jedesmal, wenn ich mich einer leeren Seite gegenübersehe, das Gefühl, die Literatur für mich neu entdecken zu müssen. Aber die Vergangenheit hilft mir da überhaupt nicht. Daher kann ich Ihnen, wie gesagt, nur meine Fragen anbieten. Demnächst werde ich siebzig. Den größten Teil meines Lebens habe ich auf die Literatur verwendet, und ich kann Ihnen nur Zweifel bieten. Der große englische Autor und Träumer Thomas De Quincey schrieb - irgendwo auf den Tausenden Seiten seiner vierzehn Bände -, ein neues Problem zu entdecken sei genauso wichtig, wie die Lösung für ein altes zu finden. Aber ich kann Ihnen nicht einmal dies bieten, sondern nur altehrwürdige Ratlosigkeiten. Aber warum sollte mich das bekümmern? Was ist denn eine Geschichte der Philosophie anderes als eine Geschichte der Verwirrungen der Inder, der Chinesen, der Griechen, der Scholastiker, von Berkeley, Hume, Schopenhauer und so weiter? Ich möchte diese Ratlosigkeit lediglich mit Ihnen teilen. Beim Blättern in Büchern über Ästhetik hatte ich immer das unbehagliche Gefühl, ich läse die Werke von Astronomen, die niemals die Sterne betrachtet haben. Ich meine, sie haben über Dichtung geschrieben, als sei Dichtung eine Aufgabe und nicht das, was es wirklich ist: eine Leidenschaft und eine Freude. So habe ich zum Beispiel mit großem Respekt Benedetto Croces Buch über Ästhetik gelesen und dort die Definition erhalten, Dichtung und Sprache seien eine "Expression". Wenn wir nun an eine Expression, einen Ausdruck von etwas denken, landen wir wieder beim alten Problem von Form und Inhalt; und wenn wir an den Ausdruck von nichts Besonderem denken, gibt uns das wirklich nichts. Also nehmen wir diese Definition mit Respekt entgegen und gehen dann zu etwas anderem weiter. Wir gehen weiter zur Dichtung; wir gehen weiter zum Leben. Und das Leben besteht, da bin ich sicher, aus Dichtung. Dichtung ist nichts Fremdes - Dichtung lauert, wie wir sehen werden, hinter der nächsten Ecke. Sie kann uns jederzeit anspringen.
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