Beschreibung
Roman Der verkrachte Student Leo Pardell lässt Mutter und Freundin in dem Glauben, er befinde sich auf Sprachreise in Buenos Aires. Doch in Wirklichkeit heuert er als Schlafwagenschaffner an, reist kreuz und quer durch Europa und begegnet einer Vielzahl von Menschen, unter ihnen auch dem exzentrischen Uhrensammler Baron Reichhausen auf der Suche nach einem legendären Stück, der "Grande Complication". Unversehens wird Leo zur Schlüsselfigur in Reichhausens fanatischer Jagd ... Liebes-und Detektivgeschichte, Entwicklungsroman und Schelmenstück, Kulturgeschichte und Reisebericht in einem: Kopetzkys literarische Tour de Force begeisterte Kritik und Lesepublikum gleichermaßen. Von elegant geschliffener Sprache, höchst amüsant, präzise und zugleich überbordend an Phantasie bietet "Grand Tour" ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art.
Autorenportrait
Steffen Kopetzky wurde 1971 in Pfaffenhofen an der Ilm geboren und arbeitete nach einem unvollendeten Philosophiestudium eine Zeit lang als Schlafwagenschaffner. Er veröffentlichte u.a. Theaterstücke, Opernlibretti, Radiofeatures und Erzählungen und wurde vielfach ausgezeichnet. Von 2003 bis 2008 war er Künstlerischer Leiter der Biennale Bonn. 'Der letzte Dieb" ist sein vierter Roman. Nach einem Jahrzehnt in Berlin-Neukölln lebt Kopetzky mit Frau und Kindern wieder in seiner oberbayerischen Geburtsstadt.
Leseprobe
Wir betreten die Bahnhöfe: fast immer in der Stadtmitte gelegen, an ihren Vorderseiten kolossal den großen Boulevards geöffnet, Einfallstore in eine Welt aus Fahrplänen und Destinationen. Wir betreten die Bahnhöfe, an irgendeinem Ort, stehen vor der Pariser Gare de l'Est, unser Blick wandert über die Front, wir erheben uns, passieren die hundert Jahre alten Figurinen des Verkehrs und des modernen Fortschritts, setzen uns kurz auf einen der Vorsprünge, von deren Höhe aus die scheinbar chaotische Bewegung des Kommens und Gehens der Reisenden eine Ordnung erhält, eine Logik des Austauschs und des freien Fließens, die, je höher wir steigen, desto geschmeidiger und natürlicher erscheint, wie auch die Stränge der Schienen, die undurchschaubar und wahllos wirken, solange man sich auf gleicher Höhe mit ihnen befindet. Doch jetzt, in diesem Augenblick, da wir den Bahnhof Milano Centrale endgültig überblicken und die klassische Anordnung seiner kolossalen Treppenhäuser begriffen haben, wenden wir uns wieder nach Norden und ermessen bewundernd den Strauß von Richtungen und Verzweigungen, die sich uns darbieten. Es ist ganz egal, welchem der Schienenstränge wir folgen: Sie führen fort, verzweigen sich immer weiter und weiter, bis sie in der selbstbewußt aufragenden Südostseite des Genfer Hauptbahnhofs enden, in der theatralischen Kulisse des Bahnhofs von Straßburg, in Genuas orientalischer Phantasmagorie mit ihrer kleinen, spitzen Kuppel und den in die Felsen gebauten Bahnsteigen, die langgestreckten, kühlen Höhlen gleichen. Wir umschweben das zierliche, in den Stadtverkehr gesenkte Portal des Hauptbahnhofs Kopenhagen, Helsinkis schweigende Wächter, die riesigen Granitfiguren, die gewaltige leuchtende Kugeln in die nordische Nacht hineinhalten, spüren die Hektik von Santa Maria Novella in Florenz oder die atemberaubende Weitläufigkeit von Wien West, um schließlich auf den Gedanken zu kommen, uns irgendwo im Inneren der Bahnhöfe niederzulassen und den Flug zu unterbrechen. Dort allerdings, auf den Stahlträgern, den Säulen und den gegen alle Schwere in lichten Bögen geschwungenen eisernen Balustraden, wimmelt es von spitzen Stacheln und von hinterhältigen Drähten, die uns Stromschläge versetzen. Man duldet uns nicht, man vertreibt uns, kaum daß wir uns irgendwo niedergelassen haben. Also durchqueren wir ruhelos die Hallen, fliegen zwischen den Ausgängen hin und her, sammeln uns auf den Vorplätzen, schwärmen auf, und manchmal lassen wir uns in die ruhigen Winkel voller Zigarettenstummel und Abfall treiben, in denen wir plötzlich alleine sind, und für uns. Eine einzelne. Eine unter vielen. Da ist sie. Wie sollen wir sie nennen? Es gibt so viele ihrer Art, aber da wir beschlossen haben, dieser einen zu folgen, müssen wir ihr einen Namen geben: Sagen wir Leoni? Nein, aber ein >LL< hat den richtigen Anhauch von Leichtigkeit, leicht muß er sein, der Name, und auffliegend. Um aber neben der flügelnden Leichtigkeit auch das Lichte ihrer Existenz zu treffen, müssen wir noch weiter suchen, das Licht muß aufscheinen in ihrem Namen, denn wenn die Sonne am Nachmittag plötzlich schräg über die Vorplätze und die Hallen fällt, beginnt ihre eigentliche Zeit, und während man ihr nachblickt, denkt man sehnsüchtig daran, daß bald wieder Sommer sein wird ^ Wir wollen sie Lucia nennen, das ist ein guter Name. Lucia wurde, sieben Monate vor ihrer gerade erfolgten Taufe, auf einer von sieben Bolzen zusammengehaltenen Querstrebe aus soliden Stahlträgern geboren, zwischen zwei der spitzen Drahtstifte, die eigentlich zur Abwehr angebracht waren und auf denen es sich ihre Mutter geschickt und vorsichtig bequem gemacht hatte, um Lucia zu gebären. Unserem Blick zeigt sich Lucia im südlichen Teil des Münchener Hauptbahnhofs, nahe der großen Treppe zum Untergrund. Unschlüssig, was sie eigentlich will, ist sie der Zudringlichkeit eines großen, allerdings schon etwas alten Liebhabers ausgesetzt, dem ein Teil seines linken Fußes fe