Beschreibung
Die Anthologie präsentiert in einer originellen zweisprachigen Ausgabe zehn Erzählungen ebenso vieler erfolgreicher italienischer SchriftstellerInnen, die in Deutschland noch wenig bekannt sind. Der Leitfaden aller Werke, die zum ersten Mal in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden, ist die Suche nach Identität in all ihren Facetten. Zehn neue literarische Stimmen, zehn individuelle Wege, über sich selbst und das Leben zu reflektieren.
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nonsolo Verlag UG
Alessandra Ballesi-Hansen
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DE 79102 Freiburg im Breisgau
Autorenportrait
Paolo di Paolo (Rom, 1983) gehörte 2003 zu den Finalisten des Premio Italo Calvino per l'inedito und des Premio Campiello Giovani. Seine Romane Raccontami la notte in cui sono nato (2008), Dove eravate tutti (2001, Premio Mondello und Super Premio Vittorini), Mandami tanta vita (2013, Premio Salerno Libro d'Europa, Premio Fiesole Narrativa und Finalist des Premio Strega), sowie Una storia quasi d'amore (2016) sind alle bei Feltrinelli erschienen. Darüber hinaus veröffentlichte er unter anderem die Kinderbücher La mucca volante (2014, Finalist Premio Strega Ragazze e Ragazzi) und Giacomo il signor bambino (2015, Premio Rodari). Etliche seiner Werke wurden in verschiedene europäische Sprachen übersetzt.
Leseprobe
SPIEGELUNGEN, ZEHN NEUE LITERARISCHE STIMMEN AUS ITALIEN Paolo Di Paolo Der Hafen des Vergessens Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt Dobrodosli. Ein Wort hat genügt. Es hat genügt, es auf einem Schild zu lesen es in Zadar zu lesen , um die Erinnerung zu wecken. Ich hatte eine Sprache gelernt, vor zwanzig Jahren! Doch es war, als hätte ich sie gelöscht, verdrängt. Wo hatten sie sich nur versteckt, die Brocken Serbokroatisch erworben im schmucklosen Raum eines Kulturvereins in Ciampino? Wo waren sie gelandet, in welchem Brunnen des Vergessens, dobar dan, dobro vece, guten Tag, guten Abend, molim vas, bitte, danke, auf Wiedersehen? Ich konnte den einen oder anderen Satz lesen und aufsagen, konnte Wie geht es dir? fragen, was mich zum Lachen brachte: Kako si? Dobrodosli, Dalibor. Kako si, Dalibor? Ein Gruß, den man benutzt, wenn jemand ankommt: Dobrodosli. Willkommen. So hatte es auf Serbokroatisch und Italienisch in großen roten Lettern auf einem Transparent gestanden, das an ihn, an sie alle gerichtet war: damals, als sie auf einem kleinen Platz in der Nähe des Bahnhofs aus dem Bus stiegen. Ein paar Kinder ohne Familie oder aber aus kaputten, durch den Krieg zerrissenen Familien. Dalibor! Wenn es stimmt, dass die Zeit für alle gleich schnell vergeht, müsste er jetzt mehr oder weniger in meinem Alter sein. Ich habe nur einen winzigen Ausschnitt aus seinem Leben mitbekommen und er aus meinem einen Sommer, anderthalb Monate im Sommer 1995. Das war es dann. Danach habe ich nicht mehr nach ihm gesucht, ihm nicht geschrieben und mich auch nicht nach ihm erkundigt. Ohne dass ich jetzt wüsste, warum. Ich kann den Grund für diese plötzliche Gleichgültigkeit nicht benennen. Wir hatten uns doch angefreundet in diesen anderthalb Monaten - so wie es zwei zwölfjährige Jungen unweigerlich tun, die sich noch nie zuvor gesehen haben, dann aber die sich träge hinziehenden Schulferien tagtäglich vom Frühstück bis zum Abendessen gemeinsam verbringen. Und dabei alles teilen müssen - auch das Kinderzimmer, mein Kinderzimmer, und sogar die Klamotten, wenn nötig. Ich könnte auf Facebook nach ihm suchen, doch darauf habe ich keine Lust. Ich kann mich noch an seinen Nachnamen erinnern und sehr gut an sein Gesicht - an seine Art, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf schräg zu legen, bis das Kinn beinahe die rechte Schulter berührt. Ich habe auch nicht vor Ort nach ihm gesucht. Das wäre gar nicht gegangen deswegen hatte ich die Reise nicht angetreten. Mit ein paar TShirts, Unterhosen und Büchern im Gepäck erkundete ich Kroatien wie ein Badeurlauber. Zuerst mit einem Zug, der in Rovigno, Rovinj, hält, wo alles so