Beschreibung
Mauern zum Sprechen bringen: Unter diesem Motto hat sich Momme Brodersen, ein intimer Kenner von Leben und Werk Walter Benjamins, eingehend mit der Geschichte eines Hauses im vornehmen Grunewald beschäftigt, das die Familie Benjamin fast ein Vierteljahrhundert lang ihr Eigen nannte. In seinem Buch geht Brodersen den Lebensspuren nach, die hier die ehemaligen Besitzer, aber auch ihre Einlieger und Besucher hinterlassen haben: denen des Bildhauers Harro Magnussen, der das Gebäude einst errichten ließ; denen des Rentiers Emil Benjamin, über dessen Leben und einflussreiches Wirken man hier viel Unbekanntes erfährt; denen seiner Kinder Walter, Georg und Dora, die, in schwierigen wie konfliktreichen Zeiten, entscheidende Jahre ihres Lebens in der Delbrückstraße verbrachten; und nicht zuletzt denen der geschiedenen Ehefrau Walter Benjamins, der Journalistin und Schriftstellerin Dora Sophie Kellner, und ihres gemeinsamen Sohnes Stefan Benjamin. Mit den Nazis wurden die Mauern stumme Zeugen vom Schicksal der jüdischen Besitzer und Mieter, die emigrieren mussten oder am Ende in deutschen KZs ermordet wurden. 1936 wurde das Anwesen arisiert. Sieben Jahre später legten es alliierte Bomber in Schutt und Asche. Alle Versuche der letzten jüdischen Eigentümerin, Dora Sophie Kellner, für den geraubten Besitz angemessen entschädigt zu werden, endeten mit einer 'Wiedergutmachung', die dieses Wort nicht verdient.
Autorenportrait
Momme Brodersen, geboren 1951 in Barm- stedt (Holstein); Studium der Germanistik, Geschichte, Pädagogik und Soziologie in Hamburg; lebt seit 1976 in Italien und war Professor für deutsche Sprache, Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Palermo; Buchveröffentlichungen u.a. über Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Hans Sahl; Mitarbeiter zahlreicher in- und ausländischer Zeitungen und Zeitschriften (u.a. Die Tageszeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Exil, Germanistik, Juni) sowie Rundfunkstationen (HR, NDR, SWF).
Leseprobe
Kein Druckwerk, keine Plakette, kein Stolperstein macht heute auf einen Ort aufmerksam, an dem sich einst die Lebenswege und Lebenshintergründe einiger bekannter Persönlichkeiten der deutschen Geschichte kreuzten. Hier wohnten und wirkten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Berliner Secessionist und Gerhart Hauptmann-Freund Carl Ebbinghaus, der Schriftsteller Walter Harlan (dessen weit berühmterer Sohn Veit, Regisseur des berüchtigten Nazifilms 'Jud Süß', hier seine frühen Kindheitsjahre verbrachte), der Pädagoge Theodor Dielitz (ehedem Leiter des Berliner Sophiengymnasiums), der international renommierte Zeichner und Bildhauer Ernesto de Fiori, der weit vor 1933 bereits zu den Nazis übergelaufene, alsbald aber auch von ihnen ins Abseits gestellte Philosoph Carl August Emge sowie die im 'Tausendjährigen Reich' als 'entartet' geltende Künstlerin Lidy Baronin von Lüttwitz. Zu den häufigeren Besuchern des Hauses gehörte kein Geringerer als der Kaiser des Deutschen Reiches, Wilhelm II., nebst Gattin, außerdem der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, der Reformpädagoge Gustav Wyneken, der Journalist der legendären 'Frankfurter Zeitung' Siegfried Kracauer, der Erzähler Franz Hessel und viele andere mehr.