Beschreibung
Der Kulturbegriff ist notorisch diffus. Doch der Grund für diese Unklarheit ist einfach. Der Begriff verweist auf ein 'komplexes Ganzes', wie bereits Edward B. Tylor festgestellt hat. In jeder Kultur verschränken sich körperliche Haltungen, mentale Befindlichkeiten und soziale Verhältnisse. Und jede Kultur vergleicht sich in dieser Verschränkung mit anderen Kulturen. Schlimmer noch, die Verschränkung fällt erst auf, wenn eine Kultur im Kulturkontakt auf sich aufmerksam wird. In dem Moment wird kontingent, was gerade noch selbstverständlich war. Wie formuliert man den Zusammenhang von Körper, Geist und Gesellschaft, wenn jedes dieser Elemente zu einer Variablen wird und jede dieser Variablen in einem eingeschränkten Funktionsbereich operiert? Die Kultur nimmt Maß an Natur, Geschichte und Technik, doch auch diese weichen aus in die Kontingenz. Dirk Baecker greift auf George Spencer-Browns Formkalkül zurück, um zu rekonstruieren, wie verschiedene kulturtheoretische Zugänge die Komplexität kultureller Phänomene als Formen der Selbstbeschreibung von Gesellschaft im Modus von Kritik und Affirmation, Tradition und Innovation, Identität und Diversität erfassen. Kultur ist reflektierte Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Nichts daran ist beliebig.
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Autorenportrait
Dirk Baecker (*1955), Soziologe, lehrt Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.
Leseprobe
Die folgenden Überlegungen verfolgen eine doppelte Zielsetzung. Sie erproben die Kulturtheorie im Medium des Formkalküls und den Formkalkül im Medium der Kulturtheorie. Sie stellen damit die These auf, dass 'Kultur' am besten als 'Form' zu verstehen ist, als eine Unterscheidung im Kontext der Beobachtung dieser Unterscheidung durch einen Beobachter, der sich anlässlich dieser Unterscheidung auch selber beobachten kann, dies jedoch mit einem Abstand zu sich bezahlen muss, der ihn sich fremd werden lässt. Wen oder was kultiviert ein Beobachter, der sich als Teetrinker kultiviert? Mit Kant wird aus dem Kulturbegriff durch diese Kontextualisierung ein Reflexionsbegriff, der an begrifflicher Komplikation gewinnt, was er an intuitiver Evidenz verliert. Aber nur so, das wäre die These der folgenden Überlegungen, wird der Kulturbegriff scharf genug, um unsere, der Menschen, Verwicklung in unsere eigenen Verhältnisse beschreiben zu können. Ich lasse es bewusst offen, ob der folgende Versuch den Formbegriff auf den Kulturbegriff anwendet, oder umgekehrt. Mir kommt es darauf an, eine Möglichkeit des Arbeitens mit George Spencer-Browns Formkalkül vorzulegen, die die Geschichte des Kulturbegriffs seit der Antike, jedoch mit besonderem Akzent auf der Moderne erhellt. Und zugleich gehe ich dem Eindruck nach, dass der Formbegriff die formale Anzeige dessen ist, was der Kulturbegriff inhaltlich erfahrbar macht: eine nichtbeliebige Verwicklung von Kontingenz in Komplexität. Die Schwierigkeit der folgenden Überlegungen liegt darin, phänomenologische Anschaulichkeit mit funktionaler Analyse und potentieller Negation zu verknüpfen. Es geht um die offen zutage liegende historische Welt der Menschen, doch diese historische Welt der Menschen ist nur zu verstehen, wenn man jedes ihrer Phänomene in einen funktionalen Zusammenhang mit anderen Phänomenen setzt und diesen Zusammenhang als einen der wechselseitigen potentiellen Negation formalisiert. Kultur beginnt damit, Nein sagen zu können, und vollendet sich darin, aus diesem Nein positive Effekte zu gewinnen. Genau das heißt: kultivieren. Zwischen dem Nein und dem Ja jedoch liegt keine eindeutige Faktizität, sondern eine variantenreiche Reflexion, die, mit Hegel, nur spekulativ zu erfassen und zu betreiben ist. Deswegen 'ist' Kultur die Pflege, die Kritik und der Vergleich menschlicher Verhältnisse im Kontext der möglichen Ablehnung dieser Verhältnisse. Ihre Wirklichkeit ist die einer wirksamen Paradoxie, einer Sorge tragenden Negation. Wir kümmern uns im Folgenden nicht darum, dass diese Lizenz zur Negation seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch inflationär überzogen worden ist. Nicht jedes Nein kultiviert schon deswegen, weil es ausgesprochen wird. Vielleicht ist diese Inflation und die mit ihr einhergehende Diffusität des Kulturbegriffs auch nichts anderes als die dialektische Gegenbewegung zur ebenso inflationären Inanspruchnahme kultureller Prozesse für identitätspolitische Maßnahmen auf der Ebene von Nationen, Regionen, Ethnien und Religionen. Es ist nicht zu übersehen, dass in der Negation ein immenses politisches Potenzial steckt. Ganze Gemeinschaften inklusive ihrer 'kollektiven Identitäten' können im Medium der Negation zunächst imaginiert und dann tradiert werden, wie wir seit Benedict Anderson und Eric Hobsbawm wissen. Die Prozesse zu beschreiben, die hier wirksam werden, ist ein wichtiges Feld kultursoziologischer Forschung und politischer Selbstverständigung in Gesellschaft. Dennoch geht es mir im Folgenden eher darum, den operativen Kern des Kulturbegriffs freizulegen. Bewusst beschränke ich mich hier darauf, für dieses Unterfangen nahezu ausschließlich explizit kulturtheoretische Quellen zu nutzen. Dahinter steht die vielleicht etwas optimistische Annahme, dass sich in allen Kulturtheorien und Kulturphilosophien der vergangenen Jahrzehnte eine bestimmte, wenn auch schwer zu fassende Denkfigur immer wieder neu mitzuteilen versucht. Weniger unvorsichtig formuliert, könnte man sage
Sonstiges
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