Beschreibung
Wohl kaum einer hatte ein so sensibles Sprachempfinden wie Karl Kraus, kaum einer ein so sicheres Gespür, um im Bereich der Literatur die Spreu vom Weizen zu trennen, das Echte von der bloßen Reklamesucht zu unterscheiden. Allein aus dem Umgang mit der Sprache entwickelte Kraus eine scharfsinnige Kultur- und Zeitkritik. Der vorliegende Band enthält die wichtigsten Aufsätze zur Literatur, darunter die beiden grundlegenden Essays Heine und die Folgen sowie Nestroy und die Nachwelt. Frank Wedekind, Peter Altenberg, Gerhard Hauptmann, August Strindberg, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzer und viele andere sind hier Gegenstand ebenso bissiger wie vergnüglicher Satiren und Polemiken.
Autorenportrait
Karl Kraus (1874-1936), österreichischer Satiriker. In den fast tausend Nummern seiner Zeitschrift 'Die Fackel' entlarvte er wortgewaltig die Doppelmoral seiner Zeit, die Phraseologie der Presse und einen verkommenen Literaturbetrieb. Aufgrund seines großen Dramas über den Ersten Weltkrieg wurde er von Professoren der Pariser Sorbonne für den Friedensnobelpreis und den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.Bruno Kern, geb. 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn. Er lebt zurzeit als selbstständiger Lektor, Übersetzer und Autor in Mainz. In der von ihm herausgegebenen Kraus-Edition sind bisher erschienen: 'Weltgericht', 'Die dritte Wapurgisnacht' sowie 'Sittlichkeit und Kriminalität'.
Leseprobe
'Zwei Richtungen geistiger Unkultur: die Wehrlosigkeit vor dem Stoff und die Wehrlosigkeit vor der Form. Die eine erlebt in der Kunst nur das Stoffliche. Sie ist deutscher Herkunft. Die andere erlebt schon im Stoff das Künstlerische. Sie ist romanischer Herkunft. Der einen ist die Kunst ein Instrument; der andern ist das Leben ein Ornament. In welcher Hölle will der Künstler gebraten sein? Er möchte doch wohl unter den Deutschen wohnen. Denn obgleich sie die Kunst in das Patentprokrustesbett ihres Betriebs gespannt haben, so haben sie doch auch das Leben ernüchtert, und das ist ein Segen: Fantasie gewinnt, und in die öden Fensterhöhlen stelle jeder sein eigenes Licht. Nur keine Girlanden! Nicht dieser gute Geschmack, der dort drüben und dort unten das Auge erfreut und die Vorstellung belästigt. Nicht diese Melodie des Lebens, die meine Musik stört, welche sich in dem Gebrause des deutschen Werktags erst zu sich selbst erhebt. Nicht dieses allgemeine höhere Niveau, auf dem es so leicht ist zu beobachten, dass der Camelot in Paris mehr Grazie hat als der preußische Verleger. Glaubt mir, ihr Farbenfrohen, in Kulturen, in denen jeder Trottel Individualität besitzt, vertrotteln die Individualitäten. Und nicht diese mediokre Spitzbüberei der eigenen Dummheit vorgezogen! Und nicht das malerische Gewimmel auf einer alten Rinde Gorgonzola der verlässlichen Monotonie des weißen Sahnenkäses! Schwer verdaulich ist das Leben da und dort. Aber die romanische Diät verschönert den Ekel: Da beißt man an und geht drauf. Die deutsche Lebensordnung verekelt die Schönheit und stellt uns auf die Probe: Wie schaffen wir uns die Schönheit wieder? Die romanische Kultur macht jedermann zum Dichter. Da ist die Kunst keine Kunst. Und der Himmel eine Hölle.Heinrich Heine aber hat den Deutschen die Botschaft dieses Himmels gebracht, nach dem es ihr Gemüt mit einer Sehnsucht zieht, die sich irgendwo reimen muss und die in unterirdischen Gängen direkt vom Kontor zur blauen Grotte führt. Und auf einem Seitenweg, den deutsche Männer meiden: von der Gansleber zur blauen Blume. Es musste geschehen, dass die einen mit ihrer Sehnsucht, die andern mit ihren Sehnsüchten Heinrich Heine für den Erfüller hielten. Von einer Kultur gestimmt, die im Lebensstoff schon alle Kunst erlebt, spielt er einer Kultur auf, die von der Kunst nur den stofflichen Reiz empfängt. Seine Dichtung wirkt aus dem romanischen Lebensgefühl in die deutsche Kunstanschauung.'