Beschreibung
Er hat zwar alle möglichen Freundinnen, doch scheint sein Interesse eher theoretischer Natur: er führt Listen, in denen er penibel den Marktwert seiner Freundinnen und anderer Frauen einträgt. Nur mit Lolla ist es anders. Sie ist Drogenberaterin und in seine Mutter verliebt, was sie dennoch nicht hindert, sich von ihm verführen zu lassen. Der one-night stand hat dummerweise Folgen. Hlynur, der sich verbissen weigert, seine gemütliche kleine Welt zu verlassen, dämmert es allmählich, daß das Leben ganz und gar nicht so läuft, wie er es sich gedacht hat. Hallgrímur Helgason erzählt mit einem trockenen, bissigen Humor von einer hippen Jugendszene, die genausogut in London, Paris oder Berlin sein könnte.
Autorenportrait
Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020). KarlLudwig Wetzig, geboren 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen.
Leseprobe
Personen Lolla, Suchtberaterin Hlynur Björn, Sohn von Berglind Páll Níelsson, Zahnarzt Þröstur, Freund von Hlynur Ellert, Páls Sohn Rósi Gulli, Schwule ein Pfarrer Marri, Reynir, Barbesucher Tímur Sigurlaug, Páls Ehefrau Katarína, ungarische Prinzessin Berglind, Hlynurs Mutter Hólmfriður, Páls Tochter Hafsteinn, Hlynurs Vater Familienmitglieder, Taxifahrer, Organkuriere, Barkeeper, Typen, Clique, Mädel, Nutten, Verkäuferinnen, Nachrichtenleute usw. Das Stück spielt überwiegend im Einzugsbereich der Postleitzahl 101, dem Innenstadtbereich der Hauptstadt Reykjavík Immerhin. Ich versuche wenigstens aufzuwachen, ehe es dunkel wird. Um ein bißchen Helligkeit in den Tag zu bekommen, mich einzuchecken, einen Stempel zu kriegen. Die Sonne ist eine Stempeluhr. Ohne daß man einen Job hat, weder bei ihr noch sonstwo. He, Sonnensystem, Sozialversicherungssystem. Es ist immer gleich schwer, aufzuwachen. Als ob man seit 400 Jahren in der Kiste läge und sich erst durch sechs Fuß Erde buddeln müsse. Jeden Morgen. Helligkeit fällt durch die Gardinen. Plötzlich kommen mir die Ziffern auf dem Radiowecker wie Jahreszahlen vor: 1601. Ich erwache viel zu früh, werde doch erst in gut 400 Jahren geboren. Naja. Ich greife nach der Colaflasche und nehme einen Schluck: Ein Gutermorgenkuß mit Mundgeruch. Man soll nie ein Mädel am Morgen danach küssen, schmeckt schal und abgestanden, als wäre sie am verwesen, tot. Meist ist sie auch hinüber. Man sollte nie beischlafen. Schlaf ist Tod. Und jeden Morgen Auferstehung. Auferstehung des Fleisches. Mein kleiner Johnny steht jedesmal als erster. Ich fühle die Fernbedienung an meinen Füßen, kann sie aber noch immer nicht mit den Zehen bedienen. Kanal 52: Interview mit einem deutschen Kneipenbesitzer. Er zapft drei Glas Bier. Ich will auch eins. Trinke noch mal von der Cola. Kanal 53: Englische Gartenpflege. Kanal 54: Ein Studio in Madrid. Kanal 36: Indische Sängerin (20.000). Kanal 37: Wettervorhersage für Südostasien. Sieht nach einem schönen Wochenende in Burma aus. Ich zappe mich durch die ganze Skala. Keine Pussy. Warum gibt es morgens keine Pornos? Haben die noch nie was von einer Morgenlatte gehört? Dann würde man vielleicht aufwachen. The Morning Porn Show. Meiner steht immer als erster auf. Vielleicht ist das mit Bedacht so eingerichtet. Es ist leichter, den Rest auf die Beine zu kriegen, wenn er schon mal steht. Der kleine Steher. Gebaut wie ein einäugiger, halsloser Bodybuilder. Mit Kopf, aber ohne Hirn; vielleicht hat er es abgegeben, spuckt ja ständig hellgraue Zellen aus. Ich stehe nie auf, wenn er nicht vorher aufgestanden ist. Ich packe ihn am Kragen und schüttele ihn; erst auf dem Klo gibt er auf. Ich murkse an ihm herum und halte die Hand vor. Warum lesen Wahrsagerinnen lieber aus trockenem Kaffeesatz als aus der nassen Handfläche? Da liegt mein Leben schäumend in der eigenen Hand. Rinnt die Straße der Lebenslinie hinab. Eine Zigarette. Der Tag ist wie eine weiße Zigarette, und die Sonne die Glut, die sich durch Rauchwolken an ihr entlangfrißt und in einem abendgelben Filter verlischt. Sonne und Kippe, beide gleich krebserregend. Es wird schon wieder dunkel. Brauche also erst gar nicht die Gardinen aufzuziehen. Ich binde meine Armbanduhr um, kette mich an die Zeit, die Erdrotation, die Sonne und das ganze System, 16:16, und ich gehe in die Küche. Cheerios. Schon auf dem Teller. Was ist los? Soll ich auf einmal bemuttert werden? Das ist zu viel. Sie hat zu viel auf den Teller geschüttet. Die richtige Menge beträgt genau 365. Mit Milch nehme ich einen nach dem anderen ein. Das Radio. Das erste Lied gibt den Ton für den ganzen Tag an. Passion von Rod Stewart. Weiß nicht so recht. Auge in Auge mit Woody Allen. Wann macht er endlich den Mund auf? Einmal muß es doch soweit sein. Dazu hat man schließlich Poster an der Wand. Ich starte den Mac. Macintosh sagt Guten Tag. Sie sollte jetzt nach Hause gekommen sein. 1637. Als hätte man eine Jahreszahl am Arm. Jeder Tag eine Geschichte der Menschheit. Chris kommt um Mitternacht zur Welt, in einer rauschenden Partynacht geht das Römische Reich unter, und im Morgengrauen tauchen die ersten Wikinger auf; vergewaltigen bis weit nach neun. Die Mittagsnachrichten werden aus alten Handschriften verlesen: "Letzte Nacht Großbrand in Etzels Burg". Nach dem Essen ein Nickerchen: Abschlaffen, Plagen, harte Zeiten, um 1504 von Michelangelos Hammerschlägen auf den Meißel geweckt. Renaissance. Shakespeare schreibt, was das Zeug hält, muß um viertel nach vier abgeben. Die Menschheitsgeschichte ist ein langer Tag. Der dreißigminütige Krieg. Der 6-Sekunden-Krieg. Langer Arbeitstag. Schon fast sieben, als Edison endlich das Licht einschaltet. 1900: Abendessen und Nachrichten. Wir haben die Abendmahlzeit der Menschheitsgeschichte erreicht oder sind gerade fertig mit essen, alle satt und schlaff, aber das Programm noch lange nicht am Ende. Alle warten darauf, daß es endlich 2000 wird. Ich mause mich ins Netz. Nichts auf der Homepage. Checke meine Mail. Nichts von ihr. Ich tippe an sie: Hi Kati. Reykjavik calling. Hope you had a good day. We are getting late up here, running out of days. You know. Wintertime in Iceland. The Kingdom of Darkness. And everything Johnny Rotten. Went to the bar last night and then to some after-party. There was one girl there who had been in Budapest and she told me about a bar called ´Roxy´ or ´Rosy´. Do you know it? Bi. Hlynur. Ich bin halb angezogen, als das Telefon klingelt. "Hlynur", sagt Þröstur. "Þröstur", sage ich. "Wie geht´s uns?" "Geht so. Du bist gestern nicht gekommen?" "Nein. War was Besonderes?" "Nein. Wir sind hinterher noch zu Jökull gegangen." "Und? Wie war´s?" "Ging so. Eher mäßig." "Irgendwelche Schnallen?" "Lóa war da und auch Sóley, und noch zwei ganz heiße Bräute." "Richtig edle Pferdchen?" "Zumindest eine so Modell Milano, die andere eher selbstgestrickt." "Ja und? Sind sie jetzt bei dir?" "Nein, der Fernseher läuft. Was hast du denn gemacht?" "Hör mal, ich hab deinen Vater gesehen. Wir sind ins Kastali gegangen - Marri war auch dabei -, und da haben wir deinen Alten getroffen. Er war richtig gut drauf." "Du lügst." "Nein, er war gut drauf, Mann. Gab uns einen aus und hat uns anschließend zu sich nach Hause eingeladen." "Seid ihr mitgegangen?" "Nein, er warf mit zwei Adressen gleichzeitig um sich." "Bist du sicher, daß er´s war?" "Mensch, Hlynur, ich kenn´ doch den alten Graubart." "Wie sah er aus?" "Prima. War so etwa auf dem dritten Tag." "Völlig hinüber?" "Ja, randvoll, aber putzmunter. Ich meine, er war richtig aufgedreht." "Aha." "Ja, hat unheimlich viel von deiner Mutter geschwafelt. und von dir. Solltest den armen Kerl mal anrufen, Mann." "Hm." "Und sonst? Liegt was an heute abend?" "Weiß nicht. Woran denkst du?" "Nur so das Übliche: K-Bar oder Kastali, ist doch Spitze da, Mann. Triffst bestimmt deinen Alten." "Wann wart ihr denn da?" "Etwa um eins." "Ach, ich weiß nicht." "Hör mal, ich rufe wieder an." "Okay." "Hlynur." "Þröstur." Mama arbeitet bei einer Einkaufszentrale. Mama ist eine Einkaufszentrale. Mama heißt Berglind Sæmundsdóttir. Mama hat einen roten Subaru. Mama kommt zwischen fünf und sechs von der Arbeit. Manchmal kommt Lolla mit und ißt bei uns. Lolla heißt Ólöf, weiß nicht, wessen Tochter. Haralds- oder Harðardóttir. Lolla ist lesbisch. Seit langem. Hat letzten Herbst ihr fünfzehnjähriges Lesbenjubiläum gefeiert. Visiert jetzt die goldene Uhr der isländischen Lesbenvereinigung an. Mama ist eine Einkaufszentrale. Meist bringt sie mir etwas mit. Ein Unterhemd, Cola, einen Gürtel, ein Video, Popcorn, Kekse. Heute kommt sie im Jahr 1735. Ich höre Plastiktüten, dann klopft sie dreimal, ehe sie hereinlugt. "Hallo, mein Schatz. Sieh mal, ob du damit was anfangen ka...