Beschreibung
Kioske, Bankautomaten, Versicherungen, Ökosysteme und sogar Denkmuster: Gegenwärtig wird alles Mögliche zur Infrastruktur erklärt. Dieses Buch fragt, welche gesellschaftliche Transformation sich darin äußert; denn das Regime der Infrastrukturen ist darauf ausgelegt, eine bestimmte sozial-räumliche Ordnung zu realisieren. Wenn Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste fungieren, dann eignen sie sich, so die These dieses Buches, zur Gesellschaftsdiagnose. Anhand von vier Fallstudien - der Verdörflichung von Infrastrukturen, der Temporalisierung von Entfernungen, dem Wandel der Staatsaufgaben und der Infrastrukturierung von Forschung - untersucht Eva Barlösius, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten. Und sie diskutiert, warum für die Wissensgesellschaft ein infrastrukturelles Regime notwendig ist, das sich von dem der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft unterscheidet.
Autorenportrait
Eva Barlösius ist Professorin für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse im Institut für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover (LUH). Sie hat das Leibniz Center for Science and Society an der LUH gegründet, das interdisziplinäre Forschung über Strukturen und Prozesse der Wissensgesellschaft betreibt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheiten, Soziologie des Essens und Wissenschaftssoziologie.
Leseprobe
1. Einleitung: Der gesellschaftsdiagnostische Gehalt von Infrastrukturen Um sogleich Missverständnissen vorzubeugen: Hier wird keine soziologische Gesellschaftsdiagnose präsentiert, mit der behauptet wird, dass wir in einer 'Infrastrukturgesellschaft' leben. Es ist aber zu beobachten, dass gegenwärtig alles Mögliche zur Infrastruktur erklärt wird. So wurden in den vergangenen Jahren beinahe alle Versorgungseinrichtungen, einschließlich Medien und Kultur, Finanz- und Versicherungswesen, staatlicherseits als 'kritische Infrastrukturen' eingestuft, und es wurde eine 'nationale Strategie' zu deren Schutz verabschiedet (BMI 2009). In ländlichen Regionen zählen nunmehr neben klassischen Einrichtungen wie Dorfläden und Arztpraxen auch Gasthäuser, Bankautomaten und Kioske zur 'daseinsvorsorgenden Infrastruktur' (Kersten et al. 2012a; 2012b). Selbst Denkstile und -muster tituliert man mittlerweile als 'mentale Infrastrukturen', um ihr Beharrungsvermögen zu akzentuieren (vgl. Welzer 2011). In der Philosophie hat sich der Terminus 'Infrastructures of Responsibilty' eingebürgert, mit dem die moralischen Aufgaben von Institutionen bezeichnet werden (Williams 2006). Zu beobachten ist weiterhin, dass Forschungsmethoden, -daten, und -instrumente zunehmend nicht mehr als Teil der Forschung betrachtet, sondern den wissenschaftlichen Infrastrukturen zugerechnet werden (vgl. Barlösius 2016a). Offenbar wird der Bezeichnung als Infrastruktur derzeit besonders große Bestimmtheit und Aussagekraft zugetraut. Allerdings wird gegenwärtig, wie diese kleine Aufzählung illustriert, Infrastruktur als geradezu beliebig dehnbarer und auslegbarer Begriff verwendet. Diese Verwendungsweise unterscheidet sich grundlegend von seinem ursprünglichen Gebrauch, der einzig große technische Einrichtungen umfasste, wie Talsperren, Eisenbahnen oder Wasser- und Elektrizitätsleitungen (siehe Kapitel 2). Dass seit einigen Jahren so Vieles und Unterschiedliches zur Infrastruktur deklariert wird, begründet sich nicht aus einer sprunghaften Zunahme der Anzahl von Infrastrukturen. Auch dokumentiert sich darin nicht, dass Infrastrukturen jetzt mehr soziale Ordnungsdienste zu leisten haben in dem Sinn, dass ihnen die Durchsetzung umfangreicherer und umfassenderer sozial-räumlicher Ordnungen übertragen wurde - mit anderen Worten, dass immer mehr Lebensbereiche mittels Infrastrukturen sozial-räumlich geordnet werden. Vielmehr zeigt sich darin ein Wandel des infrastrukturellen Regimes sowie der Strukturierung der Gesellschaft mittels Infrastrukturen. Der Begriff Regime ist hier rein deskriptiv gemeint. Mit ihm soll verdeutlicht werden, dass Infrastrukturen sozial strukturiert sind, also Ergebnis sozialer Prozesse und Strukturen, und zugleich sozial strukturierend wirken, indem sie soziale Strukturierungen hervorbringen bzw. vorhandene soziale Strukturen festigen. Der Begriff des infrastrukturellen Regimes steht weiterhin dafür, dass den Infrastrukturen jeweils ein bestimmter Modus der gesellschaftlichen Strukturierung inhärent ist, beispielsweise mittels staatlich betriebener Infrastrukturen bestimmte Formen sozialer Integration und gesellschaftlicher Teilhabe zu realisieren. Wie dies geschieht, wird im Folgenden ausführlich erläutert, ebenso wird die verwendete Konzeption von Infrastrukturen umfangreich dargelegt. Mit der Formulierung der gesellschaftlichen Strukturierung durch Infrastrukturen soll ausgedrückt werden, dass diese auf eine bestimmte sozial-räumliche Ordnung ausgerichtet sind, etwa auf eine, die durch die Bodenausdehnung des Staates, sprich territorial, bestimmt ist. Insofern Infrastrukturen dazu eingesetzt werden, sozial-räumliche Ordnungen umzusetzen, sind sie als soziale Ordnungsdienste tätig. Auf welche sozial-räumliche Ordnung sie hinwirken, ergibt sich aus dem Regime der Infrastrukturen. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, zu zeigen, dass sich Analysen über den Wandel des infrastrukturellen Regimes zur soziologischen Gesellschaftsdiagnose eignen. Gewiss ist eine Gesellschaftsbeschreibung mittels Infrastrukturen weder allumfassend, noch berücksichtigt sie die gesamte gesellschaftliche Komplexität. Sie rekurriert auch nicht auf eine soziologische Großtheorie, von deren Syntheseleistung sie profitieren könnte. Trotzdem - das ist die Hauptaussage - lassen sich anhand von Infrastrukturen Eigenheiten der sozial-räumlichen Ordnung identifizieren wie auch Prozesse deren Transformation kenntlich machen. Für den gesellschaftsdiagnostischen Gehalt von Infrastrukturen spricht insbesondere zweierlei: Erstens schaffen Infrastrukturen - mit Marx gesprochen - die Voraussetzungen für 'alle allgemeinen Bedingungen der Produktion' (Marx 1974: 429) sowie für die als 'gesellschaftlich gesetzten Bedürfnisse des Individuums' (ebd.: 432). Anders formuliert und auf weitere soziale Felder ausgeweitet, stellen Infrastrukturen Vorleistungen für die Leistungserstellung der sozialen Felder bereit, und sie fördern Prozesse sozialer Integration und Vergesellschaftung. Folglich wirken sie an Prozessen der funktionalen wie der sozial-strukturellen Differenzierung mit. Zweitens legen sie nicht nur die Bahnen für mögliche gesellschaftliche Entwicklungen in der Gegenwart, sondern ebenso für die Zukunft aus, weil sie 'Vorgriffe auf die Zukunft' vornehmen (vgl. Laak 2008: 306). So ermöglichen und fördern sie bestimmte Prozesse der funktionalen und sozialstrukturellen Differenzierung, während sie andere bremsen oder gar verhindern. Auf diese Weise fungieren sie als Weichensteller für künftige gesellschaftliche Entwicklungen und basieren auf Annahmen darüber, was zukünftig erforderlich und möglich sein soll, wie auch darüber, was nicht passieren oder gestattet werden darf. Auf den Punkt gebracht: Infrastrukturen werden mit der pragmatischen Absicht eingerichtet, zukünftige gesellschaftliche Gestaltungschancen im Voraus auszulegen. Für eine Soziologie der Infrastrukturen folgt daraus, dass sie sich weniger darauf zu verlegen hat, eine substantielle Definition von Infrastrukturen zu erarbeiten, Merkmale von Infrastrukturen festzulegen und damit zu bestimmen, welche Einrichtungen infrastrukturellen Charakter haben und welche nicht. Stattdessen sollte sie sich daran orientieren, welche Einrichtungen und Arrangements gesellschaftlich als Infrastrukturen betrachtet und behandelt werden. Wie ausgeführt, öffnen Infrastrukturen eine soziologische 'Tür' (Simmel 1957) zu signifikanten gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen, und zwar zu solchen - so meine Annahme - mit gesellschaftsdiagnostischem Gehalt. Zweifellos gibt es weitere Türen, die ebenfalls den Blick auf zentrale soziale Phänomene gestatten. Aber diese Tür hat den Vorzug, dass sie weder im Vorhinein bestimmte soziale Strukturen und Prozesse mit einem Primat versieht, zum Beispiel die Ökonomie als Basis setzt oder Kultur als Deutungs- und Sinnvorrat mit einer 'Vorrangbehauptung' (Luhmann) ausstattet, noch vor der Herausforderung steht, Wechselwirkungen, Verflechtungen oder Kopplungen theoretisch und empirisch herleiten zu müssen, da es zur Eigenheit von Infrastrukturen gehört, solche her- und sicherzustellen. Infrastrukturen, legt man das seit dem Ende des 19.Jahrhunderts vorherrschende Begriffsverständnis zugrunde, existieren schon sehr lange. Man denke etwa an Aquädukte, befestigte Wege oder Boten zur Nachrichtenübermittlung. Ob sich aus diesen Bauwerken und Einrichtungen Aussagen über die sozial-räumliche Ordnung und über gesellschaftliche Transformationen herleiten lassen, ist ungewiss. Diese Studie setzt zeitlich mit dem Aufkommen dreier Prozesse ein: Industrialisierung, Verstädterung und Nationalstaatenbildung. Sie wurden wesentlich mittels Infrastrukturen vorangetrieben, bewältigt und durch sie miteinander verknüpft. Die Botschaft, dass sich Infrastrukturen zur Gesellschaftsdiagnose eignen, mag auch für frühere Gesellschaftsepochen gelten, hier wird sie jedoch auf das Aufkommen der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft und den Übergang...