Beschreibung
Der Katholizismus zählte nicht zu den Pionieren der Demokratisierung in Deutschland. Gleichwohl ergaben sich aus den sozialen Bewegungen, mit denen er verknüpft war, und der Oppositionsrolle, die ihm im Zuge des "Kulturkampfs" zuwuchs, Impulse, die die Entwicklung zu einer Demokratie förderten. Dieses Buch zeichnet das Verhältnis von Katholizismus und Demokratie nach - von der Stigmatisierung in der Bismarckära über ihren Beitrag zur Parlamentarisierung der Weimarer Republik und zum Widerstand im "Dritten Reich" bis hin zur Entstehung der Nachkriegsordnung nach 1945.
Autorenportrait
Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Leseprobe
Einleitung Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Blocks gehören westlicher Pluralismus, parlamentarische Demokratie und europäische Einigung plötzlich nicht mehr zu den gesicherten Besitzständen gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland und in Europa. Eine dramatische Entfremdung zwischen politischen und kulturellen Eliten einerseits und Teilen der Mittel- und Unterschichten, die sich vom allgemeinen Fortschritt abgehängt fühlen und auf die dramatischen Umwälzungen der Globalisierung mit Angst und Abschottung reagieren, wird von verantwortungslosen Populisten zur Beförderung der eigenen Macht benutzt und bedroht so den Bestand der freiheitlichen Ordnung ebenso wie die notwendige Solidarität unter den Europäern. Es wird wieder deutlich, dass die parlamentarische Demokratie und die Europäische Union der Verteidigung und der Pflege bedürfen, wenn sie auf Dauer Bestand haben sollen. Aufrufe zum Kampf für eine "wehrhafte und streitbare Demokratie", wie sie der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede gefordert hat, werden häufiger. In dieser Situation dürfte es hilfreich sein, den Beitrag, den Katholiken und der Katholizismus zur Durchsetzung der Demokratie in Deutschland und zu seiner Einbettung in die europäische Gemeinschaft geleistet haben, in Erinnerung zu rufen. Der Katholizismus zählte nicht zu den Pionieren der Demokratisierung in Deutschland; dagegen stand der antimoderne Grundimpuls, der zu seiner Entstehung im 19. Jahrhundert führte. Gleichwohl ergaben sich aus den sozialen Bewegungen, mit denen er verknüpft war, und der Oppositionsrolle, die ihm im Zuge des "Kulturkampfs" zuwuchs, zahlreiche Impulse, die die Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie förderten. Diese konflikthafte (und selten richtig verstandene) Entwicklung mündete nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" in eine Situation, in der der deutsche Katholizismus zu einem der Architekten der Nachkriegsdemokratie und der europäischen Einigung avancierte. Es ist daher kein Zufall, dass etwa die katholischen deutschen Bischöfe zu den Mahnern gehören, die in der gegenwärtigen Situation mit deutlichen Worten vor einem Verfall von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität warnen. Ebenso wenig sollte es überraschen, dass sich der deutsche Laienkatholizismus bewusst dafür entschieden hat, den 101. Deutschen Katholikentag, der im Mai 2018 in Münster stattfindet, in klarer Abgrenzung von den demokratie- und fremdenfeindlichen Ambitionen der "Alternative für Deutschland" zu einem Forum der "streitbaren Demokratie" werden zu lassen. Eine historische Darstellung des Wegs der deutschen Katholiken zur Demokratie und ihres Beitrags zu ihrer Durchsetzung dürfte dieses Engagement besser verständlich machen und zugleich zu seiner Bekräftigung beitragen. Sie soll in diesem Band durch eine Auswahl von Beiträgen zur Geschichte des deutschen Katholizismus geleistet werden, die aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind und bislang nur dem jeweils einschlägigen Fachpublikum bekannt waren. Zusammen genommen bieten sie einen umfassenden Überblick über die konflikthafte Entwicklung des Verhältnisses von Katholizismus und Demokratie von der Stigmatisierung zu "Reichsfeinden" im "Kulturkampf" der Bismarckära über den Beitrag zur Parlamentarisierung des Deutschen Reiches im Übergang zur Weimarer Republik bis zur Entstehung der deutschen und europäischen Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Problematische Aspekte dieser Entwicklung wie der kompensatorische Nationalismus des späten Kaiserreichs, die Kapitulation vor der nationalsozialistischen Herausforderung und das sehr begrenzte Engagement im demokratischen Widerstand werden nicht verschwiegen. Es werden aber auch die Pioniere der Demokratisierung innerhalb des Katholizismus deutlich benannt. Der Band beginnt mit einer Erörterung des ambivalenten Verhältnisses von Katholizismus und Moderne: Auf der einen Seite hat sich die katholische Bewegung, die den Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts prägte, gegen die Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen Revolution formiert und Prinzipien verfochten, die den "Ideen von 1789" diametral entgegengesetzt waren. Gegen die Idee der Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt fest, ebenso am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen Ordnung. Auf der anderen Seite bediente sie sich selbst der Mittel des modernen Rechtsstaates, um die Stellung der Kirche zu befestigen, soweit sie durch die Auflösung der vorrevolutionären Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung wirkte sie zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen mit. Darüber hinaus aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, die über das Interesse an der Restaurierung kirchlicher Freiheiten und Machtpositionen weit hinausgingen. Vielfach wurde er erst dadurch zu einer politischen Kraft, die an der Gestaltung der modernen Staatsordnung mitwirkte. Er trug damit selbst zur gesellschaftlichen Durchsetzung der Moderne bei; und soweit er sich dabei von der ultramontanen Verengung zu lösen vermochte, wurde er auch zu einem Bestandteil der Moderne. In Deutschland fiel dieser Prozess mit der Konstituierung des modernen Nationalstaats in Form des Kaiserreichs von 1871 zusammen. Das offensive Eintreten einer Minderheit ultamontaner, ganz auf die Macht des Papsttums konzentrierter Katholiken für die Wiederherstellung des Kirchenstaates verleitete Bismarck und seine liberalen Verbündeten, den Kampf um die Einordnung der katholischen Kirche in diesen nationalen Staat mit allen Machtmitteln des Staates zu führen. Bismarcks Kulturkampf war damit, wie im zweiten Beitrag gezeigt wird, in der Hauptsache erfolgreich. Er hatte freilich den Nebeneffekt, dass die große Mehrheit der deutschen Katholiken und die Kirchenführer unter ultramontanen Vorzeichen zusammenrückten und die parlamentarische Vertretung der Ultramontanen, die "Deutsche Zentrumspartei", zu einem Machtfaktor anwuchs, der zu einer festen Größe im politischen System des Kaiserreichs wurde. Damit wurden nicht nur Bismarcks Hoffnungen auf eine Konsolidierung des Obrigkeitsstaates in Frage gestellt; es stellten sich auch den liberalen Ambitionen auf seine Parlamentarisierung neue Schwierigkeiten entgegen. In der "stabilen Krise" des Kaiserreichs, die daraus resultierte, nahm das Zentrum eine Schlüsselrolle ein. Wozu das Zentrum diese Schlüsselrolle nutzte, war grundsätzlich offen. Wie in dem Beitrag über Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs argumentiert wird, war der Kampf für den Erhalt der traditionalen Freiheiten und Machtpositionen der katholischen Kirche von Anfang an mit unterschiedlichen sozialen und politischen Bestrebungen verbunden: Im Widerstand gegen die aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik artikulierten sich zugleich die Vorbehalte traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat; katholische Bürger verbanden die Opposition gegen das Staatskirchentum mit dem Kampf für die eigenen Freiheitsrechte im konstitutionellen Staat; Angehörige der traditionellen Unterschichten ließen sich für die katholische Sache gewinnen, weil sie zugleich der Abwehr liberaler Führungs- und Modernisierungsansprüche zu dienen schien; katholische Arbeiter erlebten den Katholizismus als Fluchtpunkt vor den Zumutungen der industriellen Arbeitswelt und möglichen Bundesgenossen bei der Abwehr der Ausbeutung durch liberale Unternehmer. Mit dem Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre machten sich diese unterschiedlichen Bestrebungen stärker bemerkbar. Heftige Auseinandersetzungen innerhalb des politischen Katholizismus waren die Folge. Sie mündeten in soziale und ideologische Zerklüftung...