Beschreibung
Leben für Allah Fromme Muslime, so steht es in einem Koranvers, sind "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Sie widmen sich in besonderem Maß ihrer Religion, verstehen das Diesseits nur als Übergangsstadium zum ewigen Leben im Paradies und versuchen die Gebote Gottes im Alltag einzuhalten. Über dieses konservative Segment des deutschen Islams, das oft als fundamentalistisch eingestuft wird, existiert nahezu kein verlässliches Wissen. Susanne Schröter hat drei Jahre lang in Wiesbadener Moscheegemeinschaften geforscht und gibt in diesem Buch einen einmaligen Einblick in das Leben und die Gedankenwelten streng gläubiger Muslime. Darüber hinaus zeigt sie, mit welchen Programmen eine ganznormale deutsche Stadt sich seit Jahrzehnten um Integration bemüht.
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Autorenportrait
Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des dortigen Forschungszentrums Globaler Islam. Für ihr Buch hat sie von 2011 bis 2015 in Wiesbaden mit 130 Muslimen sowie mit Verantwortlichen aus Politik, Schulen, Jugendarbeit, Kirchen, Polizei und Verwaltung gesprochen.
Leseprobe
Vorwort "Ihr Menschen! Siehe, wir [] machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr einander kennenlernt." Koran (Sure 49 Vers 13) Dieses Buch handelt von frommen Muslimen in einer deutschen Mittelstadt, von Menschen, denen "Gott näher ist als ihre eigene Halsschlagader", wie es im Koran heißt. Seine Fertigstellung fällt in eine Zeit, in der zahllose Menschen vor der Gewalt islamischer Extremisten aus ihrer Heimat fliehen, vor den "Gotteskriegern", die unter der Flagge des "Islamischen Staats" entsetzliche Gräueltaten vor allem in Syrien, Afghanistan und dem Irak verüben und auch Europa mit Terror konfrontieren. Angesichts dieser Entwicklung wird der Islam von vielen Nichtmuslimen mit Gewalt und Rechtlosigkeit assoziiert. Vorbehalte gegenüber dem Islam und den Muslimen oder gar Islamfeindlichkeit waren in Deutschland allerdings schon vor dem Auftreten des "IS" und der Berichterstattung darüber weit verbreitet und muss als eines von vielen Hindernissen beim Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft bezeichnet werden. Islamfeindlichkeit resultiert unter anderem aus einem Mangel an Wissen. Zwar sprechen Viele über den Islam, aber Wenige mit einem substanziellen Hintergrund. 67 Prozent der von der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan im Jahr 2013 befragten deutschen Bürger schätzten die eigenen diesbezüglichen Kenntnisse als gering ein.1 So verwundert es nicht, dass die obskure Gruppe PEGIDA ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") sich ausgerechnet in Dresden zusammenfand, einer Stadt, in der man sich schon Mühe geben muss, um überhaupt auf einen Muslim zu treffen. Mit diesem Buch hoffe ich, Wissenslücken zu schließen und dadurch verzerrten Vorstellungen über "den" Islam entgegenzuwirken. Ich zeige verschiedene Varianten eines gelebten Islam in einer gewöhnlichen deutschen Stadt und stelle Muslime in der Vielfalt ihrer Identitäten, Wertvorstellungen und Lebensstile vor. Die Forschung wurde in Wiesbaden durchgeführt, einer unspektakulären Kommune, in der Muslime seit mehr als fünfzig Jahren zu Hause sind und den Alltag mitprägen. Die frommen unter ihnen, diejenigen, die ihre Zeit in besonderem Maß der Religion widmen, organisieren sich in 15 Moscheegemeinschaften und sufistischen Orden.2 Diese Menschen stehen im Mittelpunkt meines Buches. Ich schreibe nicht über sogenannte "Kulturmuslime", über Menschen, die zwar an Gott und seinen Propheten glauben, es aber mit den islamischen Pflichten nicht so genau nehmen. Mich interessieren hier ausschließlich die "religiösen Muslime", diejenigen, die die Religion ins Zentrum ihres Daseins rücken und versuchen, ihr Leben in Einklang mit den Gesetzen Gottes zu bringen oder eine besondere spirituelle Beziehung zu Allah anstreben. Über dieses konservativ-fromme Segment des deutschen Islam ist nur wenig bekannt. Es gibt zwar unzählige Studien, in denen mithilfe sozialwissenschaftlicher Verfahren Einstellungen, Bildungsgrad und ökonomische Potenz abgefragt wurden, doch hinter diesen Daten werden Menschen selten sichtbar. So bringen herkömmliche quantitative Methoden und standardisierte Fragebögen zwar verallgemeinerbare Daten hervor, diese Daten sind aber zwangsläufig unterkomplex und simplifizierend. Kurz gesagt: Die Gefahr besteht, dass Stereotype abgefragt werden. Als Ethnologin gewinne ich Daten dagegen nicht aus dem Studium von Texten oder mithilfe von vorgefertigten Fragebögen, sondern durch "teilnehmende Beobachtung"3 von Ereignissen und verschiedene Gesprächtechniken. Ich will verstehen, wie der oder die Andere denkt und fühlt, in welche Kategorien er oder sie die Welt einteilt und nach welchen Prämissen er oder sie handelt. Ethnologen versuchen sich in ihr Gegenüber hineinzuversezen und seinen Standpunkt gewissermaßen von Innen zu sehen. Dieses Herangehen braucht Zeit. Man baut Beziehungen auf, folgt Ereignissen und entdeckt unentwegt Neues. Je länger man in einem Projekt forscht, desto tiefer wird das Verständnis, was es nicht selten schwer macht, einen Schlussstrich zu ziehen. Die Wiesbadener Forschung war ursprünglich auf zwei Jahre angelegt, erstreckte sich dann aber auf einen Zeitraum von Oktober 2011 bis September 2014; einzelne Interviews folgten sogar noch bis Juli 2015. Ich habe, meist in Begleitung meines Mitarbeiters Oliver Bertrand, formelle und informelle Gespräche mit 137 Personen aus muslimischen Gemeinschaften geführt. Wir haben mit unseren Dialogpartnern- und partnerinnen zusammen gegessen und getrunken, über Religion und Politik diskutiert, alltägliche Probleme erörtert und Lebensgeschichten ausgetauscht. Wir wurden zu Festen, Gebeten und Aktivitäten im Rahmen des Ramadan eingeladen, haben an Diskussionsveranstaltungen, Treffen des "Arbeitskreises Islamischer Gemeinden in Wiesbaden" sowie Sitzungen städtischer Einrichtungen teilgenommen und haben uns zu zweit, zu dritt oder in kleinen Gruppen privat getroffen. Dazu kamen Interviews mit Angehörigen des Amtes für Integration, der Polizei und des Verfassungsschutzes, mit Schulleiterinnen und Lehrern, Pfarrern sowie der Leiterin der Justizvollzugsanstalt. Die Mitglieder der Wiesbadener Gemeinden hatten es selbst in der Hand zu bestimmen, welchen Part sie in dem Projekt spielen würden, ob die Gespräche eher förmlich oder offen verlaufen sollten, ob sich engere, vielleicht sogar freundschaftliche Beziehungen ergeben würden oder es nur bei einer einzigen Begegnung bleiben sollte. Wo die Kontakte unkompliziert waren, wo wir Gesprächspartner fanden, die Lust hatten, über dieses und jenes zu plaudern, kamen schnell Informationen zusammen, die ich in diesem Buch festgehalten habe. Wo die äußeren Umstände gerade ungünstig waren oder man uns reserviert gegenüberstand, ist dies nicht geschehen. Deshalb werden einige Gemeinschaften ausführlicher erwähnt als andere. Ich habe große Herzlichkeit und Offenheit erlebt, aber auch Misstrauen und Ablehnung. Einige meiner Gesprächspartner hatten Angst, ich könnte das Gehörte missbrauchen, um Muslime zu diskreditieren, andere hofften, ich würde die herrschenden Vorurteile widerlegen. Alle Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind fromm und verstehen sich im religiösen Sinne als konservativ. Dennoch kommen sie in den tagtäglichen Auseinandersetzungen mit ihrer Religion zu unterschiedlichen Schlüssen, praktizieren einen unterschiedlichen Alltag und entwickeln unterschiedliche Vorstellungen für ihre Zukunft. Einige von ihnen träumen von einer Gesellschaft, die dem idealisierten Vorbild Medinas im 7. Jahrhundert ähnlich ist, andere sind glühende Verfechter des deutschen Rechtsstaates, manche versuchen, beides miteinander zu vereinbaren. Das Buch beginnt einleitend (Teil I) mit der öffentlichen Debatte über den Islam in Deutschland, die bereits zur Zeit Goethes von widerstreitenden Projektionen geprägt war und einerseits zu schwärmerischer Orientbegeisterung, andererseits zu rassistischer Abwehr führte. Diese Polarisierung ist auch heute noch virulent, wenngleich sie von vielen kritisch reflektiert wird. Der zentrale zwei Teil (II) führt die Vielfalt muslimischen Lebens in Wiesbaden vor Augen, unterteilt nach Gemeinschaften, in denen jeweils eigene Vorstellungen von Islam entwickelt werden, und nach Personen, die mir ihre Geschichte, ihre Erfahrungen und ihre Perspektive auf Religion erzählten. Ich habe den narrativen Charakter der Gespräche beibehalten und erzähle Begebenheiten, die mir selbst bedeutsam erscheinen. Es geht darin unter anderem um die Überwindung des eigenen Egos, das man wie einen Esel bändigen und als Reittier verwenden kann, um zu Gott zu gelangen; um die Erwartung junger Männer, im Paradies die Gewinner zu sein, wenn sie im Diesseits den Befehlen Allahs gehorchen: um das alltägliche Wirken von Geistern und dem Teufel; um Frauen, die den Propheten Mohammed als ersten Feministen der Weltgeschichte zeichnen, um ihren Ehemännern die Hausarbeit schmackhaft zu machen; und um Gründe für arrangierte Ehen unter Verwandten. Da ich nich...