Beschreibung
Disability History Herausgegeben von Gabriele Lingelbach, Elsbeth Bösl und Maren Möhring Welche Ereignisse der deutschen Geschichte nach 1945 können als Momente des Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen 'Behinderung' betrachtet werden? War das Kriegsende 1945 tatsächlich eine Zäsur? Oder sollten andere Geschehnisse, etwa der 'Contergan-Skandal' in den 1960er Jahren, als Wendepunkte angesehen werden? Im interdisziplinären Dialog fragen die Autorinnen und Autoren danach, welche Phasen der Kontinuitäten und der Brüche sich für die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland identifizieren lassen. So entsteht erstmals ein Überblick über die Geschichte von Menschen mit Behinderungen in beiden deutschen Staaten seit 1945.
Autorenportrait
Gabriele Lingelbach ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Kiel. Anne Waldschmidt ist Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Universität Köln.
Leseprobe
Einleitung: Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche in der deutschen Disability History nach 1945 Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt Disability History, die Erforschung der Geschichte von Behinderung, erfährt in der Bundesrepublik seit einigen Jahren eine immer größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Wenn auch später als im angel-sächsischen Sprachraum beginnt sie, sich allmählich auch in Deutschland als Forschungsfeld im Rahmen der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Geprägt durch einen intensiven Zusammenhang mit den hierzulande schon seit Längerem existierenden, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Disability Studies wie auch durch einen transnationalen Austausch mit Historikerinnen und Historikern anderer Länder, sind in den letzten Jahren in Deutschland themenbezogene Überblickspublikationen, Netzwerke und Institutionen entstanden. Erstmalig trat hierzulande die Disability History auf dem 47. Deutschen Historikertag 2008 in Dresden in Erscheinung. Die Ergebnisse der von Elsbeth Bösl, Anne Klein und Anne Waldschmidt organisierten Sektion "Dis/ability in History - Behinderung in der Geschichte: Soziale Ungleichheit revisited" wurden 2010 in einem Grundlagen vermittelnden ersten Sammelband veröffentlicht. Belebt wird das Feld außerdem durch Forschungszusammenhänge wie das seit 2007 an der Universität Bremen angesiedelte, mediävistisch ausgerichtete Verbundprojekt Homo debilis oder auch durch die eher zeitgeschichtlich orien-tierte Reihe Disability History des Campus Verlags, für welche der vorliegende Sammelband den Auftakt darstellt. Disability History - eine Definition Was aber ist Disability History? Zunächst einmal begreifen Disability Historians Behinderung nicht als natürliche Gegebenheit, sondernals eine naturalisierte Differenzkategorie, analog etwa zu Geschlecht/Gender oder Ethnizität/Race. In diesem Sinne handelt es sich bei Beeinträchtigungen wie Down-Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Querschnittslähmung, Blindheit etc. nicht um einfache Tatsachen, sondern um soziale Konstruktionen: Welche Behinderungskategorien existieren, wie Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse verlaufen und welche Folgen sie für den Einzelnen und die Gesellschaft haben, hängt von soziokulturellen Bedingungen und somit auch vom historischen Kontext ab. Disability History stellt (Nicht-)Behinderung daher nicht als eine universelle, feststehende kulturelle Kategorie und uniforme soziale Praxis dar; vielmehr wird betont, dass über die Jahrhunderte hinweg ebenso wie zwischen den Kulturen eine große Vielfalt an Sicht- und Reaktionsweisen in Bezug auf Behinderung existierte. Mithin fragt die historische Teildisziplin, wie und unter welchen Bedingungen die Behinderten als vermeintlich homogene soziale Gruppe konstruiert wurden, wer aus welchen Gründen als behindert galt, und wie frühere Gesellschaften mit Diversität, Anderssein und Abweichung umgingen, wie also die Wechselverhältnisse von Inklusion und Exklusion jeweils gestaltet waren. Mit dieser Perspektivierung distanziert sich die neuere Forschung deutlich von der traditionellen, dem Rehabilitationsansatz verhafteten Geschichte der Behinderung, die in essentialistischer Sicht davon ausgeht, dass es die Dichotomie behindert/nicht behindert tatsächlich gibt; die Befunde und Diagnosen voraussetzt, anstatt sie zu hinterfragen; die lediglich davon zu berichten weiß, wie Gesellschaften mit behinderten und chronisch kranken Menschen umgehen, anstatt Gesellschaft und Kultur als konstitutiv für die Behinderungskategorie zu verstehen. Entsprechende geschichtswissenschaftliche Studien haben sich lange Zeit von dem sogenannten individuellen oder auch medizinischen Modell leiten lassen, welches die Ursachen für Behinderung im Individuum verortet und letztere als Defizit bzw. zu verhütende oder zu behebende, jedenfalls zu lindernde Normabweichung definiert. Erst seit den 1970er Jahren hat sich, ausgehend von den zuerst in den angelsächsischen Ländern entstandenen Disability Studies und vor allem mit dem Namen des britischen Soziologen Michael Oliver verbunden, allmählich das sogenannte soziale Modell etabliert, welches Behinderung als Benachteiligung ansieht und die Verantwortlichkeit dafür nicht dem Individuum, sondern der Gesellschaft zuschreibt. Dieses Modell führte außerdem die Unterscheidung zwischen einerseits Impairment, der Beeinträchtigung in Form körperlicher, geistiger oder psychischer Besonderheit, und andererseits Disability als Kategorie gesellschaftlicher Diskriminierung ein. Seit den 1990er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit der Disability Historians dann zunehmend auf kulturelle Phänomene, analysierten sie doch immer öfter gesellschaftliche Stereotype, Kategorisierungen, Repräsentationen mit Bezug auf Behinderung. Intensiver wurde nun die diskursive Ebene untersucht, über die Behinderung erst als solche konstruiert wird. Im Zentrum stand das Vorhaben, den Behinderungsbegriff zu problematisieren, zu dekonstruieren und kritisch zu reflektieren. Diese Arbeiten lassen sich als Ausdruck eines kulturellen Modells verstehen. Nicht nur in Bezug auf die Untersuchungsebenen und die Konzeptionierung des eigenen Untersuchungsgegenstands arbeiten Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen, mit unterschiedlichen Ansätzen. Vielmehr gibt es auch verschiedene Ansichten darüber, welche Rolle die Disability History im Kontext der Geschichtswissenschaft spielen soll. Auf der einen Seite wird mit der Disability History die Hoffnung verbunden, eine neue historiographische Perspektive zu begründen: Versteht man Behinderung als eine Leitdifferenz moderner Gesellschaften, bietet sich die Chance, in diesem Rahmen nicht nur Geschichte(n) der Behinderung, sondern auch die allgemeine Geschichte neu zu schreiben. Indem im Sinne des kulturellen Modells Behinderung nicht als universales Phänomen begriffen wird, sondern als zeitgebundene Kategorie, deren Konstruktion ein Charakteristikum (post-)moderner Gesellschaften darstellt, wird der Anspruch erhoben, einen Beitrag zur Erforschung der Moderne, ihrer Schattenseiten und noch unausgeleuchteten Räume zu leisten. Behinderung wird zum exemplarischen Gegenstand, mit dem sich das allgemeine Phänomen zeigen lässt, dass Differenz erst dann hergestellt werden kann, wenn es soziokulturelle Kontexte gibt, das heißt entsprechende Rahmungen, Struk-turen und Bedingungen (zum Beispiel den Wohlfahrtsstaat) sowie auch konkrete Räume und Institutionen (wie etwa die Klinik oder die Anstalt). Die Erforschung des Nicht-Normalen kann aus dieser Sicht darüber Aufschluss geben, wie es um das Normale bestellt ist. Mit Hilfe der Fokussierung auf Behinderung, einem Phänomen, welches als das Nicht-Normale par excellence gilt, können Selbstverständlichkeiten, Normalitäten sichtbar gemacht und kritisch reflektiert werden: Das fraglos Geltende wird selbst fragwürdig, Eindeutigkeiten offenbaren ihre Ambivalenz. Der so verstandenen Disability History dient also Behinderung als analytische Kategorie, um grundlegende gesellschaftliche Ordnungsprinzipien zu erkunden. Auf der anderen Seite gibt es die Auffassung, dass es sich bei der Disability History lediglich um eine Segmentgeschichte, analog etwa zur Migrations- oder Wissenschaftsgeschichte handelt, die auf ihr The-menfeld mit einem offen gehaltenen Set an Fragestellungen, begrifflichen Festlegungen, Theorien und Modellen zugreift, ohne den Anspruch zu erheben, der allgemeinen Geschichte mehr als nur einen weiteren inhaltlichen Aspekt und eine zusätzliche Perspektivierung hinzufügen zu können. Die Disability History in diesem Sinne konzentriert sich auf eine weitere Differenzkategorie neben den innerhalb der Geschichtswissenschaft bereits etablierten Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Generationszugehörigkeit oder Konfession. Potenzial für eine grundlegende Revision der Allgemeinen Geschichte beinhaltet die so verstandene Disability History nicht, au...