Beschreibung
Durch die weltweite Wirtschaftskrise gewinnen Debatten um die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und die Prekarisierung von Arbeit hierzulande stark an Bedeutung. In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gehören Phänomene informeller Arbeit dagegen schon lange zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zwischen den verschiedenen regionalen Forschungssträngen kam es bislang jedoch kaum zu einem Austausch. Die Autoren präsentieren Befunde neuer Informalitätsstudien aus Ländern des "globalen Südens", diskutieren ihre Anschlussfähigkeit an aktuelle Prekaritätsdebatten und fragen nach der Rolle internationaler Arbeitspolitik.
Autorenportrait
Hans-Jürgen Burchardt ist Professor für Internationale und Intergesellschaftliche Beziehungen an der Universität Kassel. Stefan Peters, Dr. rer. pol., und Nico Weinmann sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter.
Leseprobe
Prekarität und Informalität - eine Annäherung in globaler Perspektive HansJürgen Burchardt/Stefan Peters/Nico Weinmann Die aktuelle Wirtschaftskrise schlägt sich auf dramatische Weise in der europäischen Arbeitswelt nieder. Vor allem in Südeuropa stieg die Er-werbslosigkeit in den letzten Jahren deutlich an; die Jugendarbeitslosigkeit bewegt sich dort um 50 Prozent und macht soziale Unsicherheit zur prä-genden Erfahrung einer ganzen Generation. Die auf ökonomische Aus-terität angelegten Strukturanpassungen der Europäischen Union stehen nicht nur im Widerspruch zu ILO-Kernarbeitsnormen, sie setzten auch die sozialen Sicherungssysteme unter Druck, die besonders vulnerable Be-völkerungsgruppen vor krisenbedingten Problemlagen schützen sollen. Existenzabsicherung findet vor diesem Hintergrund zunehmend jenseits formalisierter Arbeitsmärkte und wohlfahrtsstaatlicher Politiken statt. All-gemein büßen in Europa - einer Weltregion, der oftmals eine Vorbild-funktion bei der politischen Institutionalisierung und Wohlstandsverteilung attestiert wird (Acemoglu/Robinson 2012: 11ff.) - betrieblich organisierte, abhängige, kontinuierliche und unbefristete Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse als Normgröße für Sozial-, Arbeits- und Tarifpolitik signifikant an Bedeutung ein. An ihre Stelle treten oft niedrig entlohnte, zeitlich befristete, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse, immer öfter ohne Absicherung über die Sozialversicherung. Seit ihrem Beginn wird die Krise zusätzlich von Massendemonstrationen und Generalstreiks in Südeuropa, Protesten der spanischen Indignados, der Occupy-Bewegung oder städtischen Unruhen wie in Großbritannien 2011 und Stockholm 2013 begleitet, die auf wachsende gesellschaftliche Verwerfungen hindeuten (Gallas/Nowak 2012; Schmalz/Weinmann 2013). Angesichts dessen gewinnen Zeitdiagnosen an Einfluss, die nicht nur eine Beschleunigung der Prekarisierung der Arbeit konstatieren, sondern in ihr zugleich eine besondere soziale und politische Sprengkraft sehen (Standing 2011). Mit dieser zunehmenden Prekarisierung werden nicht nur Analogien zu dem Pauperismus der Frühphase des Kapitalismus oder zu vorange-gangenen Wirtschaftskrisen gezogen (Castel 2008). Angesichts der zugespitzten sozialen Lage insbesondere an den geografischen Rändern Europas werden gleichzeitig Assoziationen zu den traditionellen Entwicklungsregionen laut. Lange Zeit galten strukturell heterogene Arbeitsmärkte mit einem hohen Anteil marginalisierter, prekärer oder informeller Beschäftigung sowie das "arm trotz Arbeit"-Phänomen als besondere Merkmale der strukturellen Unterentwicklung von Ländern der so genannten "Dritten Welt". Diese konnten nach Ansicht der gängigen Expertenmeinung am ehesten überwunden werden, wenn man europäischen und US-amerikanischen Entwicklungsmustern folgte (z.B.: Parsons 1951; Lerner 1968; Bendix 1969). Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise scheint es hingegen so, als würden die Vorzeichen einer solchen modernisierungstheoretischen Lesart umgekehrt: Angesichts der sozialen Verwerfungen in Südeuropa oder den USA wird gar eine "Verdrittweltlichung" (Conte 2009; 2013), ein "Dritte-Welt-Amerika" (Huffington 2011), oder ein "Dritte-Welt-Kapitalismus" (Caballero 2011) ausgemacht. Der globale Norden - so der Tenor dieser These - befinde sich in einem Prozess der Anpassung nach unten, einem krisenbedingten race to the bottom im Sinn einer globalen Ausbreitung von Strukturmerkmalen des globalen Südens. Die Frage nach einer expandierenden Schnittmenge der Arbeits- und Lebenswelten im globalen Norden und Süden ist selbstverständlich nicht neu. Pierre Bourdieu fühlte sich bereits zur Schwelle des neuen Jahrtau-sends an seine Studien über die Kabylen in der algerischen Arbeitsge-sellschaft aus den 1960er Jahren erinnert, als er im Zuge einer Debatte um den Wandel der hiesigen Arbeitsbedingungen für Zentraleuropa "überall" Prekarität diagnostizierte (Bordieu 1998). Ähnlich sprach Ulrich Beck seinerzeit von einer "Brasilianisierung" der Arbeitsgesellschaft und verstand darunter "den Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft. Damit breitet[e] sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographie- und Lebensformen des Südens" (Beck 1999: 8). Allerdings haben Diagnosen dieser Art eine stark assoziative - unter den Eindrücken der Krise eine polemische, bisweilen katastrophistische - Schlagseite. Meistens ist hierbei ein Mangel an systematischer Betrachtung und Fundierung festzustellen. Weitgehend wird darauf verzichtet, die Be-funde und Erfahrungen zwischen dem Süden und dem Norden analytisch, methodisch und empirisch abzugleichen und konzeptionell neu aufzubereiten. Mit dem vorliegenden Band wollen wir vor dem Hintergrund dieses beschleunigten "Einbruchs des Informellen" in die Arbeitswelt des "Nordens" die hiesige, vornehmlich auf Aspekte der Prekarität fokussierte Debatte mit Konzepten und Ergebnissen der Informalitätsforschung aus dem "Süden" verknüpfen. Dabei wird eine globale Perspektive auf Arbeit eingenommen, die unterschiedliche Facetten informeller Beschäftigung beleuchtet und theoretische Aspekte sowie neue empirische Befunde der Informalität in verschiedenen Weltregionen diskutiert. In diesem einführenden Text werden vor dem Hintergrund der krisenbedingten Umbrüche in der Arbeitswelt in Europa systematisierende Schlaglichter auf die längere Konjunktur der Informalitätsforschung geworfen, bevor die zentralen Inhalte und Beiträge des Sammelbandes dargestellt werden. Europa in der Krise und die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts Die gegenwärtige globale Krise präsentierte sich bislang in vielfältigem Gewand: Zunächst als Banken-, Spekulations- und Finanzkrise, dann als klassische Überakkumulationskrise einiger Wirtschaftssektoren wie der Automobilindustrie, schließlich als Weltwirtschaftskrise aufgrund inter-nationaler Handels- und Investitionsverflechtungen, und zuletzt als Krise der Staatsfinanzen beziehungsweise als Währungskrise des Euros. In Europa geht sie nach einer anfänglichen Phase antizyklischer Konjunk-turprogramme mittlerweile vielerorts mit Austeritätspolitiken sowie einem Abbau von öffentlichen Dienstleistungen und Systemen sozialer Sicherung einher. Starke Einbrüche im Wirtschaftswachstum in den Jahren 2009 und 2012 beförderten hierbei einen drastischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen (ILO 2013; Torres 2013: 167). Die Erwerbslosigkeit befindet sich zu Beginn dieses Jahrzehnts in den 17 Euro-Ländern auf dem höchsten Stand seit dem Anfang der Währungsunion. Jeder zehnte EU-Bürger und jeder Achte in den Staaten der Eurozone ist arbeitslos. Vor allem Länder Süd- und Teile Osteuropas sind hiervon überproportional betroffen. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen wird flankiert von einer Zunahme befristeter Beschäftigung sowie Teilzeitarbeit gegenüber unbefristeter Vollzeitarbeit (ESDE 2013: 31ff.). Diese Trends gehen einher mit einem Anstieg von Armut, denn atypisch Beschäftigte sind mehr als einem doppelt so hohen Armutsrisiko ausgesetzt wie unbefristet Vollzeitberufstätige (ebd.: 43). Im Jahr 2011 lebten 8,7 Prozent der Beschäftigten innerhalb der EU unterhalb der Armutsgrenze. Dieses "arm trotz Arbeit"-Phänomen stieg in einem Drittel der EU-Länder während der Krise deutlich an. Zu dieser Gruppe zählen unter anderem die scheinbaren best performer wie Deutsch-land, Dänemark oder die Niederlande, deren Arbeitsmärkten gewöhnlich eine besondere Robustheit attestiert wird, und die mit Mitteln wie Kurzar-beit, moderater Lohnentwicklung oder einem Anstieg von Teilzeitarbeit Krisenfolgen zu kompensieren versuchen (ebd.: 41ff.; Garz 2013; Brenke u.a. 2013). Neben Einbußen des Erwerbseinkommens kann in zwei Drit-teln der EU Länder ein allgemeiner Einbruch des durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausgemacht werden. Besonders stark betroffen sind ...