Beschreibung
Das späte Zarenreich und die Sowjetunion waren auf vielfältige Weise in globale Prozesse eingebunden. An verschiedenen Beispielen gehen die Autorinnen und Autoren des Bandes dem Austausch von Menschen, Gütern und Informationen nach, über den das Land im Laufe der Geschichte mit anderen Weltregionen verbunden war. Dabei zeigen sie, wo Europa, Asien, Amerika und Afrika jeweils auf den russischen und sowjetischen mentalen Weltkarten verortet wurden. Sie leisten damit eine längst fällige Einordnung des früheren russischen Reiches bzw. der ehemaligen Weltmacht Sowjetunion in die Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Autorenportrait
Martin Aust ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn.
Leseprobe
Welt- und Globalgeschichte Im zurückliegenden Jahrzehnt gelang es der Welt- und der Globalgeschichte, sich sichtbar in der Historiographie zu etablieren. Regelmäßige Kongresse wie der Europäische Kongress für Welt- und Globalgeschichte, Zeitschriften wie das Journal of Global History und Lexika wie The Palgrave Dictionary of Transnational History zeigen diesen Trend deutlich an. Ergänzend kann auf Synthesen wie John Darwins After Tamerlane. The Global History of Empire since 1405 oder auch Darstellungen des 19. Jahrhunderts wie Christopher Baylys The Birth of the Modern World und Jürgen Osterhammels Verwandlung der Welt verwiesen werden. Die genannten Titel stehen exemplarisch für eine Fülle von Publikationen, die jene Pfade weiter erkundeten, auf denen in der Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts die ersten Schritte zu einer neuen Welt- und Globalgeschichte erfolgt waren. Weltgeschichte und Globalgeschichte verbinden einige Paradigmata. Gleichzeitig lassen sich auch fundamentale Unterschiede zwischen beiden Ansätzen benennen. Die grundlegende Gemeinsamkeit welt- und globalgeschichtlicher Ansätze liegt in der Aufnahme des postkolonialen Imperativs, sich von eurozentrischen und auf den Westen fokussierten Perspektiven zu lösen. Europa und der Westen sollen nicht länger die konzeptionelle Norm darstellen, an der das empirische Material der übrigen Weltregionen gemessen wird, um es in einem hierarchischen Abstand zu Europa und dem Westen zu skalieren. Doch davon abgesehen müssen idealtypisch eine Reihe von Unterschieden zwischen der Welt- und der Globalgeschichte benannt werden. Weltgeschichte integriert die räumliche Totalität des Planeten wenn schon nicht epochenübergreifend, so doch zumindest innerhalb eines bestimmten Zeitausschnitts in ihre Darstellung. Der Vergleich von Weltregionen gehört dabei zum methodischen Kernbestand der Weltgeschichte und verweist sie zugleich auf die Kooperation mit den area studies. Die Diskussionen einzelner area studies über die Außengrenzen ihrer Untersuchungsregion reproduziert die Weltgeschichte als Diskurs über die räumliche Binnengliederung der Welt und ihrer Geschichte. Globalgeschichte richtet ihren Blick demgegenüber auf transkontinentale Verflechtungen und "Interaktionen in weltumspannenden Systemen". Dabei zielt Globalgeschichte auf wechselseitige Konstitutionsbedingungen lokaler, nationaler, regionaler und globaler Phänomene. Mit Blick auf ihre Rezeption in der akademischen Community wiederum verbindet Welt- und Globalgeschichte das Potenzial, die Diskussion über die Moderne in den Sozialwissenschaften zu irritieren. Shmuel Eisenstadts Konzeption der multiplen Moderne konnte lange Zeit als konsensfähiger Grund zwischen den Sozialwissenschaften und der Welt- und Globalgeschichte gelten. Zuletzt hat jedoch die sozialwissenschaftliche Debatte aktuelle Erkenntnisse der Welt- und Globalgeschichte aufgegriffen, um Eisenstadts multiple Modernen kritisch zu hinterfragen. Hier ist vor allem Wolfgang Knöbls Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika zu nennen. Knöbl rezipiert darin unter anderen verflechtungsgeschichtliche Ansätze der Globalgeschichte, die in seinen Augen den bei Eisenstadt angelegten Vergleich voneinander abgegrenzter Modernen in Frage stellen. So weit die Etablierung und Rezeption der Welt- und Globalgeschichte zuletzt auch vorangeschritten ist, sind doch Gegenreaktionen nicht zu übersehen, ja, sie springen auf dem Buchmarkt frappierend ins Auge. Eine Reihe von Historikern hält unverdrossen am Paradigma The West and the Rest fest. Der Westen wird dabei in Kontrast zu den übrigen Weltregionen gebracht, von denen er sich in der Neuzeit als innovativ und hegemonial abhebe. Die Geschichten des Kapitalismus sowie von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind dabei die bevorzugten Felder, um Singularität und Dominanz des Westens zu postulieren. Die jüngste Finanzkrise hat nun auch Niall Ferguson dazu bewogen, sich des Themas anzunehmen. Der Originaltitel seines Buches Civilization. The West and the Rest hat in der Übersetzung eine weitere Zuspitzung erfahren und lautet im Deutschen: Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen. Der Untertitel ist insofern Programm, als Ferguson glaubt, in seinem Buch sechs sogenannte "Killerapplikationen" identifizieren zu müssen, auf denen vermeintlich fünf Jahrhunderte lang die Dominanz des Westens beruhte, bevor sie nun seit 2008 in Frage stünde. Es handelt sich dabei um Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentum, Medizin, Konsum und Arbeit. Bemerkenswerterweise teilen sowohl die jüngeren welt- und globalgeschichtlichen Ansätze als auch die beharrenden Kräfte einer Geschichte von Singularität und Dominanz des Westens eine Gemeinsamkeit: Sie haben verhältnismäßig wenig über Russland und seine Geschichte zu sagen. Die herkömmlichen Geschichten des Westens begreifen Russland als eine Entität außerhalb des Westens, die sich durch nachholende Adaptionen westlicher Errungenschaften auszeichnete. Zu den eher ermutigenden Begleiterscheinungen dieser Konstellation gehört die Verwunderung John Darwins darüber, wie wenig die Forschung der Russlandhistoriographie einer Synthese von Imperial- und Globalgeschichte anzubieten habe. Bei der Arbeit an seinem Buch After Tamerlane konstatierte Darwin überrascht, dass das späte Zarenreich in den Augen seiner Historiker scheinbar nichts anderes als "a revolution waiting to happen" gewesen sei. Hindernisse global- und weltgeschichtlicher Perspektiven in der Russlandforschung Die Vernachlässigung global- und weltgeschichtlicher Perspektiven in der Russlandhistoriographie hat mit Sicherheit mehrere Gründe. Der Themenwahl einzelner Forscherinnen und Forscher sind kognitive Hürden vorgelagert, die nicht gering zu schätzen sind. Die Geschichtsschreibung Europas nimmt Russland und die Sowjetunion als Randzone wahr, deren Zugehörigkeit zu Europa häufig zweifelhaft erschien. Dieser Blick wurzelt tief in verschiedenen tradierten kognitiven Karten. Fünf übliche Verdächtige sind hier zu nennen. Erstens konfrontierte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts Polen und Russland mit der Verzeitlichung von Differenz. Beiden Gesellschaften stand demzufolge ein langer Weg der Orientierung an der aufgeklärten Avantgarde im Westen und der Mitte Europas bevor. Zweitens wanderte Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den kognitiven Karten diverser europäischer Länder endgültig vom Norden in den Osten des Kontinents. Der Osten galt dabei als ein Raum politischer Despotie und kultureller Eigenheit. Drittens zementierten geschichtsphilosophische Diskurse im 19. Jahrhundert diese Annahme einer binären Opposition von Russland und Europa. Viertens blendeten die Selbstinszenierung und Selbstwahrnehmung des britischen Empires als Dreh- und Angelpunkt von Globalisierungsprozessen und globaler Dominanz im 19. und frühen 20. Jahrhundert entsprechende Anteile anderer globalisierender Mächte aus. In britischen Augen und Ohren schien die Welt britisch beherrscht, geregelt und geordnet. 1905 hob George Peel auf den Triumph des weltweiten britischen Telegraphennetzes ab. Dem Kolonialoffizier E.J. Harding wiederum erschien auf seiner Reise durch den Suezkanal und das Rote Meer nach Indien 1913 die Route von einer außergewöhnlichen "Britishness" gekennzeichnet. Auch die Häfen seien doch "very British-looking" - wenn man einmal von den Gebäuden und den Menschen absehe. Musikstücke wie Rule Britannia und Land of Hope and Glory mögen das ihre dazu beigetragen haben, sich im Status globaler Dominanz und Auserwähltheit zu wähnen. Die Historiographie reflektiert diese britische Selbstwahrnehmung bis auf den heutigen Tag - teils euphorisch bejahend wie im Fall von Niall Fergusons How Britain Made the Modern World, teils nüchterner wie in Jürgen Osterhammels Verwandlung der Welt. Der Fokus auf das britische Empire als Generator der Globalisierung des 19. Jahrhunderts blendet den Beitrag Russlands zur Verwandlung de...
Schlagzeile
Globalgeschichte Herausgegeben von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Ulrike Freitag