Beschreibung
Die gewaltsame Enteignung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus war weniger das Werk der 'klassischen' Tätergruppen, als vielmehr ein Prozess, an dem zahllose Personen und Institutionen als Ausführende und Profiteure beteiligt waren. Eine zentrale Rolle bei allen staatlich angeordneten Enteignungsmaßnahmen spielte die Reichsfinanzverwaltung. Im Fokus der Beiträge stehen die Funktionsweise dieser 'ganz normalen' staatlichen Behörde als Verfolgungsinstanz, das Engagement der beteiligten Beamten sowie die zahlreichen mit der staatlichen Verwaltung kooperierenden und konkurrierenden Nutznießer der Enteignung. Neben der Beraubung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland wird die Ausplünderung der Juden in den 'angegliederten' und von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas thematisiert.
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Autorenportrait
Katharina Stengel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut, Frankfurt.
Leseprobe
Die jüdische Bevölkerung in Deutschland - genauer: die Menschen, die von den Nationalsozialisten zu Juden erklärt wurden - war von 1933 an zahlreichen Angriffen auf ihr Eigentum ausgesetzt, die schließlich in der vollständigen Enteignung des inländischen Besitzes von Juden gipfelten. Die Schritte, die zur Enteignung führten, waren vielfältig und komplex, unzählige Personen, Interessengruppen, Behörden und Unternehmen waren daran beteiligt, große Teile der nicht-jüdischen Bevölkerung in Deutschland haben davon profitiert. Die Stigmatisierung und gesellschaftliche Isolation der jüdischen Bevölkerung wurde von Beginn des "Dritten Reiches" an auch auf dem Weg der Beschneidung ihrer Eigentumsrechte forciert. Die den Berufsverboten, erzwungenen Geschäftsaufgaben und Vermögenskonfiskationen folgende Verarmung der deutschen Juden hat ihre Wehrlosigkeit gegenüber den Verfolgungsmaßnahmen verstärkt und vielfach eine lebensrettende Flucht verhindert. Die Negierung des Eigentumsrechts, die ab 1938 immer radikalere Züge annahm und die immerhin eines der zentralen Rechtsgüter der bürgerlichen Gesellschaft betraf, machte - in den Augen von Verfolgten wie Verfolgern - auch die Gültigkeit anderer Rechtsnormen für die jüdische Bevölkerung fraglich. Der "bürgerliche" oder "juristische Tod" der Juden ging ihrer Vernichtung voraus. Lange Jahre fand die Enteignung der jüdischen Bevölkerung in der Geschichtsforschung wenig Beachtung. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung hat sich im Verhältnis zum millionenfachen Mord an den europäischen Juden eher als Marginalie ausgenommen, obwohl bereits sehr früh einzelne Historiker wie Raul Hilberg oder H. G. Adler auf den Zusammenhang zwischen Enteignung und Vernichtung hingewiesen haben. Die Konzentration auf nationalsozialistische Organisationen und ihre Rolle bei der Verfolgung und Vernichtung der Juden oder - wo die "Arisierung" zum Thema wurde - die Fokussierung auf die Rolle des "Großkapitals" haben lange Zeit den Blick auf die Vielzahl der Akteure verstellt, die gerade an der wirtschaftlichen Verfolgung der Juden beteiligt waren. Zur fehlenden Wahrnehmung der staatlichen Verwaltungsbehörden als Enteignungs- und Verfolgungsinstanzen hat darüber hinaus eine Sichtweise beigetragen, die in der Staatsverwaltung eine Bastion des "Normenstaates" sah, die sich - wenn überhaupt - nur zögerlich und unter Zwang zu Hilfsdiensten bei der Verfolgung einspannen ließ. Während die erste wichtige Arbeit zur "Arisierung" aus den 1960er-Jahren in der Forschung zunächst wenig Nachhall fand, ist in den letzten circa fünfzehn Jahren eine ganze Reihe von Arbeiten dazu entstanden, häufig mit regionalem Zuschnitt. Wegweisend für die Forschung war insbesondere Frank Bajohrs Regionalstudie zur "Arisierung" in Hamburg, mit der es ihm gelang, das Geflecht der Beteiligten und die Dynamik des politischen und gesellschaftlichen Prozesses der "Arisierung" darzustellen. Zur verstärkten Auseinandersetzung mit "Arisierung", die sich zunächst vor allem auf die staatlich wenig geregelte Aneignung des gewerblichen Besitzes von Juden in den Jahren bis 1938 konzentrierte, trat ab etwa 1999 eine intensivere Forschungstätigkeit zur fiskalischen Ausplünderung der Juden. Im Komplex der wirtschaftlichen Verfolgung wurde nun differenziert zwischen "Arisierung" und staatlicher Vermögenskonfiskation. Wolfgang Dreßen hat 1998 mit seiner Ausstellung "Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn" und der dadurch ausgelösten Debatte über den Umgang mit den Akten der Finanzbehörden aus der NS-Zeit als Erster dem Thema "Fiskus und Judenverfolgung" größere öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. In den vergangenen Jahren haben einige, meist regional zugeschnittene Forschungs- und Erschließungsprojekte auf der Basis der Akten der Finanz- und Wiedergutmachungsbehörden die fiskalische Ausplünderung der Juden dokumentiert und erforscht. Das, was teilweise H. G. Adler bereits in den 1970er-Jahren in seinem Werk Der verwaltete Mensch vorgezeichnet hatte, konnte in den Forschungsprojekten vertieft und konkretisiert werden. Deutlich geworden ist inzwischen, in welch herausragender Weise die Reichsfinanzverwaltung an der Enteignung der Juden mitgewirkt hat; sie war das wichtigste Instrument der staatlichen Konfiskation des Vermögens der jüdischen Bevölkerung, und sie sollte der Garant dafür sein, dass die Erlöse auch tatsächlich in der Reichskasse ankamen. Den Zugriff des Fiskus auf den Besitz der Juden kann man grob in drei Bereiche unterteilen: die Ausplünderung der Flüchtlinge, die Erfassung und Sicherstellung des Besitzes von Juden einschließlich der Einziehung der "Judenvermögensabgabe" und schließlich die "Verwaltung und Verwertung" des Besitzes der Deportierten und Geflohenen ab November 1941. Juden, die aus Deutschland flüchteten, hatten nicht nur die "Reichsfluchtsteuer" zu entrichten, sondern waren mit zahlreichen anderen Abgaben, Gebühren und Ausfuhrverboten konfrontiert. Das führte dazu, dass die Emigranten häufig kaum mit dem Lebensnotwendigen in den Aufnahmeländern ankamen. Der in Deutschland zwangsweise zurückgelassene Besitz wurde zugunsten der Reichskasse eingezogen; zunächst betraf das vor allem wohlhabende Juden, ab Ende 1941 alle jüdischen Emigranten. Auch den noch im Deutschen Reich lebenden Juden entzog die Finanzverwaltung nach und nach die Verfügungsgewalt über ihren Besitz. Der "Vermögensanmeldung" folgte rasch die "Judenvermögensabgabe" nach dem Pogrom vom November 1938. Die "Sicherstellung" des gesamten Besitzes durch die Devisenstellen war zunächst eine Maßnahme gegen jene Juden, die in Verdacht standen, auswandern zu wollen. Ab 1939 wurde sie auf alle Juden im Reichsgebiet ausgeweitet, die folglich für jede Ausgabe, die über einem geringen monatlichen Freibetrag lag, um eine Genehmigung bitten mussten. Im November 1941, kurz nach Beginn der systematischen Deportationen der Juden in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager "im Osten", wurde die berüchtigte Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz erlassen, nach der das gesamte inländische Vermögen der deutschen und staatenlosen Juden dem Reich "verfallen" war. Die Reichsfinanzverwaltung wurde mit der "Verwaltung und Verwertung" dieses Vermögens beauftragt. Weder organisatorisch noch personell hat die Reichsfinanzverwaltung während des Nationalsozialismus größere Umstrukturierungen erlebt. Der dreigliedrige Behördenaufbau mit dem Reichsfinanzministerium an der Spitze, gefolgt von den Landesfinanzämtern - 1937 umbenannt in Oberfinanzpräsidien - und den örtlich zuständigen Finanzämtern blieb unverändert. Mit Fritz Reinhardts Ernennung zum Staatssekretär erlangte zwar ein "Alter Kämpfer" und überzeugter Nationalsozialist eine zentrale Führungsposition im Reichsfinanzministerium, ansonsten herrschte aber unter der gehobenen Beamtenschaft traditionell eine nationalkonservative Haltung vor. Der parteilose Finanzminister Lutz Schwerin von Krosigk war der einzige Minister in Hitlers Kabinett, der bereits vor 1933 im Amt war und es bis zur Kapitulation blieb. Die hohe Professionalität und Sachkenntnis der Finanzverwaltung zusammen mit der traditionell großen Bereitschaft ihrer Beamten, die Sache des Staatshaushalts zu ihrer eigenen zu machen, und der allgemeinen Annahme, die Finanzbeamten seien weniger korruptionsanfällig als das Personal anderer Institutionen, prädestinierte die Reichsfinanzverwaltung zur idealen Vollstreckerin der staatlichen Enteignungsmaßnahmen. Alle Verwaltungsebenen - vom Reichsministerium bis zu den Wohnsitzfinanzämtern - waren in die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung involviert, einige Dienststellen hatten dabei allerdings eine besonders exponierte Rolle. Aus der Auseinandersetzung mit der staatlichen Enteignung der jüdischen Bevölkerung ergibt sich ein Spektrum an unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven. Die Beiträge dieses Sammelbands greifen eine Reihe dieser Fragen auf, die vor allem das Funktionieren der Finanzverwaltung als Verfolgungsinstan...
Inhalt
Inhalt Katharina Stengel Einleitung Claus Füllberg-Stolberg Sozialer Tod - Bürgerlicher Tod - Finanztod Finanzverwaltung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus DER VOLLZUG DER ENTEIGNUNGEN Walter Rummel Die Enteignung der Juden als bürokratisches Verfahren Funktion und Grenzen der pseudo-legalen Formalisierung eines Raubes Christoph Franke Die Rolle der Devisenstellen bei der Enteignung der Juden Gerd Blumberg Flucht deutscher Juden über die Grenze Devisen- und Passkontrollen der Zollbehörden an der Grenze in der NS-Zeit Bernhard Rosenkötter "...eine der radikalsten Räubereien der Weltgeschichte..." Die Rolle der Haupttreuhandstelle Ost und ihrer "Sonderabteilung Altreich" DIE BEAMTEN DES REICHSFISKUS ALS TÄTER Alfons Kenkmann "Verwaltungsnomaden", Verweigerer und Vollstrecker: Handlungsoptionen in der Finanzverwaltung Susanne Meinl Ganz normale Finanzbeamte? Die Verwalter und Verwerter "jüdischen Besitzes" DIE NUTZNIESSER Dieter Ziegler Die Wertpapierkonfiskation und die Rolle der Banken Britta Bopf Diskriminierung und Enteignung jüdischer Immobilienbesitzer im Nationalsozialismus Beate Schreiber "Arisierung" im Auftrag Berlins: Immobilienwirtschaft und Reichshauptstadt Monica Kingreen Systematische Politik der Ausplünderung Die Aneignung "jüdischen Eigentums" durch die Stadt Frankfurt am Main ENTEIGNUNG DER JUDEN IN EUROPA Hans Safrian Kein Recht auf Eigentum Zur Genese antijüdischer Gesetze im Frühjahr 1938 im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum Jean-Marc Dreyfus Die französische Finanzverwaltung und der Raub an den Juden 1940-1944 Ingo Loose Die Enteignung der Juden im besetzten Polen 1939-1945 Martin Dean Geplündert, verwaltet und verkauft: Die Enteignung der Juden in der besetzten Sowjetunion Abkürzungsverzeichnis Autorinnen und Autoren
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Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts