Beschreibung
Der Begriff der Genealogie steht seit Friedrich Nietzsche und Michel Foucault für eine radikale Form von Kritik: Genealogie stellt einen Wert, eine Institution, eine Praxis in Frage, indem sie deren historische Wurzeln freilegt. Martin Saar rekonstruiert genealogische Kritik als eine Kritik des Selbst, die uns erkennen lässt, welche Prozesse und Mächte uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Und diese Kritik enthält ein Versprechen: Wenn die kontingenten Machtverhältnisse aufgedeckt werden, in die das Selbst verstrickt ist, kann es sich transformieren.
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Leseprobe
Kritik hat ihren Platz im Jetzt. Die in sozialen und politischen Zusammenhängen unverzichtbare Praxis des Neinsagens, der Zurückweisung von Behauptungen, Handlungen und Verfahren zielt auf das, was in der Gegenwart wahr, gültig und legitim ist. Im Kontext der philosophischen und politischen Frage nach der Möglichkeit von Kritik ist der Begriff der Genealogie seit Friedrich Nietzsche mit dem Versprechen einer Theorieform verbunden, in der die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die spezifische Herkunft der von ihr untersuchten Gegenstände einen kritischen Sinn bekommt, die Kritik des Heute also mit einem Wissen des Gestern zusammenfällt. Genealogische Kritik steht für eine radikale Analyse, die die historischen Wurzeln eines Werts, einer Institution oder einer Praxis freilegt und das Wissen um die Gewordenheit eines Objekts gegen dieses richtet, um es durch den Hinweis auf seinen Ursprung zu kompromittieren und zu delegitimieren. Diese Vorstellung ist auf ebenso scharfe Ablehnung wie begeisterte Zustimmung gestoßen. Während im Kontext vieler philosophischer Debatten gegen eine solche Konzeption der Vorwurf des 'genetischen Fehlschlusses', des ungültigen Schlusses von der Herkunft auf den Wert oder Unwert, erhoben wird, wird im Kontext vieler sozialwissenschaftlicher und historischer Diskussionen ohne Weiteres unterstellt, dass eine Erforschung von Herkünften und Ursprüngen eine kritische Funktion habe. Das vorliegende Buch hat sein Ziel darin, die Idee und den Anspruch einer solchen historisch-genetisch verfahrenden genealogischen Kritik zu rekonstruieren und systematisch zu verteidigen. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, dass sich bestimmte Texte tatsächlich so verstehen lassen, dass ihre Autoren Geschichtsschreibung mit kritischen Effekten oder kritischer Wirksamkeit betreiben und dass dies ein Projekt ist, das zwar auf anspruchsvollen methodologischen und systematischen Prämissen beruht, aber Funktionen übernimmt, die von anderen Theorien nicht erfüllt werden können. Der Weg zu diesem Nachweis führt zunächst zurück an den Ursprung der Idee der Genealogie selbst, nämlich zu den Texten Nietzsches und später Michel Foucaults, die von ihren Autoren selbst als Genealogien bezeichnet und zur Kritik eingesetzt wurden. An diesen Texten lässt sich ein Modell ablesen, das in der Tat ein bestimmter Modus kritischer Geschichtsschreibung, ein höchst spezifisches Verfahren ist. Dieses Verfahren erweist sich aber als komplexer, als es sowohl Kritiker als auch Verteidiger von Genealogie als Kritik unterstellen. Deshalb widerspricht der folgende Vorschlag, wie Genealogie bei Nietzsche, bei Foucault und in einem systematischen Sinn zu verstehen sei, sowohl der Ansicht, ihre Prämisse sei falsch - sie beruhe nämlich auf einem unzulässigen Schluss von Genesis auf Geltung -,wie auch der Unterstellung, eine genetische oder historische Betrachtung könne schon an sich, d.h. ohne weitere Spezifizierungen kritisch sein. Gegen die erste Partei lässt sich einwenden, dass Genealogie eindeutig kritische Geschichtsschreibung ist, und gegen die zweite, dass sie mehr als Geschichtsschreibung ist; der ersten Partei ist zu empfehlen, im gegenwärtigen Streit um die richtige Form der Kritik Genealogie als würdige Kandidatin anzuerkennen, weil sie eine besondere Form der Kritik ist; der zweiten ist vor Augen zu führen, dass es nicht ganz leicht ist, eine Genealogie zu schreiben, weil sie eine besondere Art von Text ist. Als Kritikform und als Textgattung hat Genealogie, wie sie sich im Anschluss an Nietzsche und Foucault verstehen lässt, ihre besonderen Regeln und Charakteristiken, und in dieser Spezifik liegt ihre Attraktivität auch für Fragestellungen, die nicht mehr die von Nietzsche und Foucault, sondern die eines kritischen Denkens der Gegenwart sind.
Inhalt
Inhalt Einleitung: Geschichte und Kritik Das Problem der Genealogie9 1.Geschichte und Leben beim frühen Nietzsche23 1.1.Das Bewusstsein der Geschichtlichkeit24 Geschichte und "Gesundheit" 26 - Die drei Formen der lebensdienlichen Historie 28 1.2.Bildung und Leben31 Erziehung und Perfektion 33 - Die Ambivalenz des Historischen 35 2.Nietzsches historische Moralkritik39 2.1.Das genealogische Programm41 2.2.Die Politik der moralischen Sprache47 Die Deutungsmacht der "Priester" und das kreative Ressentiment 49 "Züchtung" und Steigerung 53 - Historisch-politische Fiktionen 58 2.3.Bewusstsein und Gewissen60 Die Naturgeschichte des Versprechens und der Verantwortung 60 - Genealogische Methodologie 65 - Der Ursprung des schlechten Gewissens 70 - Auflösung des zivilisatorischen Scheins 73 2.4.Selbstbild und Norm75 Asketische Typen: Philosoph, Priester, Wissenschaftler 78 - Die Zukunft der Kultur und der Natur des Menschen 87 - Methodische Fiktion und virtuelle Geschichte 92 3.Die Elemente des genealogischen Verfahrens: Subjekt, Macht, Form97 3.1.Vom transzendentalen Subjekt zur Praxeologie des Selbst98 Die Umwertung des Subjektbegriffs 99 - Praktische Subjektivität 103 Urgeschichte und Sozialgeschichte der Subjektivität 105 3.2.Der "Wille zur Macht" und das Herrschaftsmodell "alles Geschehens"107 Der Begriff des Willens und die Psychologie des "Willens zur Macht" 109 Ein dreifacher Machtbegriff 112 - In der Hand der Starken: reale Macht 117 Im Netz der Priester: symbolische Macht 119 - Im Bann eines Ideals: imagi- näre Macht 122 - Nietzsches Macht- und Selbstkritik und der genealogische Imperativ 125 3.3.Die genealogische Form: Drastik und Rhetorik130 "Starke" vs. "Schwache": soziale Typologisierung 132 - "Urszenen": Personalisierung und Hyperkonkretion 135 - Starre Systeme: Anonymisierung und Epochalisierung 137 - Adresse und Implikation: das Subjekt als Objekt 138 Genealogischer Stil: eine Kunst der Übertreibung 139 3.4.Nietzsches genealogische Methode: Deutungsalternativen142 Genealogie als ideologiekritische Begriffsanalyse (Geuss) 143 - Genealogie als Subversion (MacIntyre) 147 - Genealogie als Rechtfertigung (Williams) 149 Kritik des Selbst in der sozialen Ordnung 153 4.Foucaults Historisierung des Wissens159 4.1.Von der Psychologie zur Geschichte des Wahnsinns162 Das Andere der Vernunft 166 - Nietzsche in Frankreich, 1950-1970 169 4.2.Die Ordnung der Wörter und der Dinge172 Historisch-epistemologische Kritik der Subjektivität 176 - Autorschaft und Subjektposition 181 - Archäologie und Kritik 183 5.Macht und Subjektivierung187 5.1.Foucaults Genealogiebegriff188 Kant und die Begriffe "Archäologie" und "Genealogie" 189 - Deleuze über Genealogie 193 - Die Ordnung des Diskurses und die Geschichte 195 - In der Maske Nietzsches 198 - Terminologische Varianzen 202 5.2.Die Analytik der Macht204 Relationalität der Macht 206 - Intentionalität und strategischer Charakter der Macht 211 - Produktivität der Macht I: Materialität und Körper 213 Produktivität der Macht II: Wissen und Wahrheit 217 - Produktivität der Macht III: "Seele" und Subjekt 220 5.3.Geschichte und Geschichtlichkeit der Macht224 Eine historische Typologie der Macht: souveräne Macht und Bio-Macht 226 Seelenführung und Regierung: Pastoralmacht und Gouvernementalität 229 Exkurs: Die Machtanalytik in der Geschichte der Machttheorien234 6.Selbstkonstitution247 6.1.Subjekt und Ethik beim späten Foucault251 Kategorien moralischer Subjektivität 253 - Selbstsorge und Selbstkultur 257 Geschichte der Sexualität als Subjektgeschichte 262 - Lebenskunst, Lebenstechnik, Lebensform 270 6.2.Das politische Selbst275 Macht und Freiheit 277 - Herrschaft, Widerstand und "Aufklärung" 282 6.3.Fiktionale Kritik des Selbst286 7.Genealogie als ...
Schlagzeile
Theorie und Gesellschaft Herausgegeben von Axel Honneth, Hans Joas, Claus Offe und Peter Wagner