Beschreibung
In der Reihe Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erscheint dieser neue Gedichtband von Charles Simic: Mit seinen lakonischen und trotzdem märchenhaften Gedichten und tragikkomischen Balladen ist der in Serbien geborene, in Amerika aufgewachsene und in New Hampshire lebende und lehrende Dichter Charles Simic zu einem der beliebtesten und am meisten übersetzten Dichter Amerikas geworden. Seine Verse von oft unheimlicher Spannung gehören längst zu den Klassikern moderner Poesie.
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Autorenportrait
Charles Simic, 1938 in Belgrad geboren und 2023 in Dover, New Hampshire, gestorben, kam 1954 in die USA. Er war Professor der Universität New Hampshire, wo er seit 1973 lehrte. Er hat etwa 20 Gedichtbände veröffentlicht, die vielfach ausgezeichnet wurden, u.a. mit dem Pulitzer-Preis. Zuletzt erschienen bei Hanser Picknick in der Nacht (Gedichte, 2016) und Im Dunkeln gekritzelt (Gedichte, 2022).
Leseprobe
Wunder der unsichtbaren Welt Wein, der Lippen und Zunge blutig färbt, Dann deine halb geflüsterte Geschichte, Wie junge Hexen Einst in Nächten wie dieser Auf Ehemännern durch den Himmel ritten. Die Sterne waren wie brennende Kerzen Allein auf der Wanderschaft, Und der neblige Wald Ein weiß fließendes Nachtgewand. Als steckte uns erst gestern, sagte ich, Der Alte Samiel in ein Bett aus toten Blättern. Du wurdest zu einer schwarzen Katze, Und auf allen vieren lief ich dir nach In eine Kirche - oder war es ein Wohnzimmer, Wohin ein Hund uns jagte, Der, den wir im Dorf jetzt bellen hören. Beim Spazierengehen Treffe ich nie jemanden aus alten Zeiten. Es ist Sommer, und ich bin allein in der Stadt. Ich gehe in Geschäfte, Wohnhäuser, Büros, Wo mir nichts auch nur entfernt vertraut ist. Die Bäume im Park - waren sie immer so groß? Und die Vögel - so versteckt, so still? Wo ist der Bus, der hier vorbeifuhr? Wo sind die Obsthändler und Friseure, Und das Schulhaus mit dem roten Zaun? Frau Harding sitzt sicher noch an ihrem Pult, Seufzt beim Zensieren bis spät in die Nacht. Das Blöde ist, ich kann die Straße nicht finden. Ich kann nur noch einmal um den Block laufen Und hoffen, daß mir einer den Weg Und einen Schlafplatz zeigt, denn ich hab keine Rückfahrkarte Dorthin, woher auch immer ich heute abend gekommen sein mag. Wolken Für die mit Zukunftsängsten bringt ihr Neuigkeiten, Formen, die an etwas erinnern können, Ohne ihre verstörende Zweideutigkeit je zu verlieren. Wie eine Truppe von reisenden Zauberkünstlern im Zirkuswagen Spielt ihr Versteck mit dem Licht Auf ländlichen Rummelplätzen, Bis euch die Nacht überrascht. Erholt euch vom Prophezeien Über kleinen Präriestädten, In Gesellschaft von dunklen Bäumen, Gerichtsstatuen, Grillen Und anderen Amateur-Bauchrednern. Imitator leerer Wände Schon als Kind wolltest du unsichtbar sein. Wenn es Zeit war zum Essen, Gingst du hin und verbargst dich unterm Bett Und ließt deine Mutter überall nach dir suchen. In der Schule waren dir Radiergummis lieber als Bleistifte. Leere Räume in der Dämmerung Galten dir mehr als ein Kinobesuch. Im Park wartete dein Rendezvous auf dich, Aber du saßt in deiner Küche, Hast deinen Kopf samt Hals Aus alten Familienphotos ausgeschnitten, Hast dabei wieder das Aussehen angenommen, Das du an verschneiten Abenden hattest, Wenn du zu deinen Eltern nach Hause kamst Und Haare und Augenbrauen waren ganz weiß. Überall sind die Lampen an Man darf dem Kaiser nicht sagen, daß es Nacht wird. Seine Armeen jagen Schatten, Verhaften Schwarzkehlschwalben und Einsiedlerdrosseln Und setzen Städte und Dörfer in Brand. Sie ziehen durch die Hauptstadt und konfiszieren Uhren aller Art, verbrennen Ketzer Und malen den Sonnenaufgang über die Dächer, Während die Leute einander guten Morgen wünschen. Der Hahn, den man in Ketten legte, kräht, Die Blumen im Garten hat man gezwungen, offen zu bleiben, Und doch erscheinen auf den Böden im Palast Dunkle Flecken, die kein Schrubben entfernen kann. Leseprobe