Beschreibung
Der Italiener Giorgio Morandi (1890-1964) zählt heute zu den berühmtesten Malern der klassischen Moderne. Seine Stilleben, in denen er jahrzehntelang nur ein einziges Sujet variierte, blieben jedoch für viele ein Rätsel. Philippe Jaccottet verfolgt Morandis Weg von den frühen Landschaftsbildern bis zu den späten asketischen Stilleben und zeichnet ihn nach in einer tiefen Wahlverwandtschaft. Eine poetische Meditation über das Verständnis von Kunst und ihr Verhältnis zu Sprache und Poesie.
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Autorenportrait
Philippe Jaccottet, 1925 in Moudon/Waadtland geboren, 2021 im südfranzösischen Grignan/Drôme gestorben, wurde für sein umfangreiches Werk u.a. mit dem Petrarca-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. 2014 wurde sein Gesamtwerk in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen. Auf Deutsch erschienen zuletzt Der Unwissende (Gedichte und Prosa, 2003), Truinas, 21. April 2001 (2005), die Anthologie Die Lyrik der Romandie (2008), Notizen aus der Tiefe (2009), Sonnenflecken, Schattenflecken (2015) und Die wenigen Geräusche (Späte Prosa und Gedichte, 2020).
Leseprobe
Mit den Stilleben - »stilles Leben«, das trifft auf Morandis Bilder mehr zu als auf die jedes anderen Malers - wird das Rätsel noch undurchdringlicher und das Staunen im gleichen Maße tiefer. Das »Sujet« nämlich ist hier nicht mehr so reizvoll wie bei den Ansichten der natürlichen Welt, Landschaften oder Blumen, und beschränkt sich auf die wenigen fast bedeutungslosen Gegenstände, die jeder kennt. Manchmal sind die Farben hier ausgesprochen nüchtern, winterlich, Farben von Holz und Schnee, und sie lassen einen abermals das schöne Wort »Geduld« aussprechen, lassen einen an die Geduld der alten Bauern denken und an die des Mönchs in seiner groben Kutte: die gleiche Stille wie unter dem Schnee oder zwischen den gekalkten Mauern einer Zelle. Die Geduld, die bedeutet, daß man gelebt hat, sich abgeplagt, durchgehalten hat: mit Bescheidenheit, Ausdauer, aber ohne Auflehnung, Gleichgültigkeit oder Verzweiflung; als ob man von dieser Geduld doch eine Bereicherung erwartete; man könnte glauben, sie erlaube einem, sich heimlich durchdringen zu lassen von dem einzigen Licht, das zählt. Lange Zeit hat Morandi so etwas wie Friese von nebeneinanderstehenden Gegenständen gemalt (fünf oder sechs, manchmal sogar mehr); mit den Jahren hat deren Zahl sich verringert, hat die Zusammenstellung sich immer stärker konzentriert, ist immer überzeugender geworden; als wären die ersten Bilder schon allzu bevölkert, als redeten sie zuviel (unvorstellbar!); als gäbe es hier für den Geist noch zuviel Ablenkung. Jetzt dagegen ist es so, als hätte der Reisende, nachdem er lange durch den Sand gewandert ist, den Brunnen erreicht; den Brunnen, der im Alten Testament »Brunnen des Lebendigen, der mich sieht,« genannt wird; und als gäbe es keinen Grund mehr, auch nur den kleinsten Schritt darüber hinaus zu tun. Man wird einwenden, eine genauso langsam und überlegt erarbeitete Komposition aus bloßen Flecken ohne den geringsten Bezug zur konkreten Wirklichkeit könnte dasselbe Gefühl von Frieden schenken, denselben »Trost des Reisenden«. Das ist nicht undenkbar - bei Rothko zum Beispiel. Aber daß es uns durch Gegenstände zuteil wird, die, wenn auch nur lose, mit unserem täglichen Leben verknüpft sind, trägt dazu bei, uns vor jedem idealistischen Gedankenflug zu bewahren. Als würden wir daran erinnert, daß ein am Boden gesprochenes Gebet wahrer ist als jedes andere, oder sicherer tröstet. Unter den spätesten Werken diese Teekanne, allein oder fast allein in der Mitte der Leinwand: Man sieht genau, daß Morandi keinen Umgang mit Platon pflegt, daß es nicht das Wesen, die Idee einer Teekanne ist; vielmehr ihre Erscheinung für eine andere Form von Leben; und auf ihr noch das leise Zittern des Lebens. Ein andermal möchte man sagen, daß diese Gegenstände erleuchtet sind vom Licht eines Gestirns, welches noch oder schon tief über dem Horizont steht; daß sie erleuchtet sind, ich hätte Lust zu sagen: erhöht, entsühnt von diesem Licht aus unendlicher Ferne. Ein Tischsegen. So übertrieben das wirken mag, die Jünger von Emmaus kamen mir in den Sinn: obwohl hier weder Brot ist noch Menschenhand noch göttliches Antlitz. Aber wegen dieses von links einfallenden Lichts mußte ich auch an Gemälde von Vermeer denken, mit ihren jungen Frauen am Fenster, und sogar an die Madonna von Senigallia in Urbino (dazu kommen noch die Blau- und Gelbtöne, die den drei Malern gemeinsam sind). Man möchte glauben, daß Morandi einer Vase, einer Schale, einem Glöckchen aus Zelluloid, die zu einer höchst seltsamen »Sacra conversazione« versammelt sind, die Gnade übertragen hätte, jenes übernatürliche Licht auf sich zu ziehen, das einige Jahrhunderte früher dem Kleid einer jungen Frau, eines Engels oder der Mutter Gottes vorbehalten war. (Morandi als erster hätte das alles zurückgewiesen. Trotzdem: Ich will es nicht aus meinem Kopf verbannen, ich bin nicht völlig grundlos darauf gekommen.) Je weiter Morandis Kunst fortschreitet in der Entblößung, in der Konzentration, desto stärker bekommen die Ge Leseprobe