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Der Unwissende

Gedichte und Prosa

Erschienen am 10.03.2003
17,90 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446202740
Sprache: Deutsch
Umfang: 184 S.
Format (T/L/B): 2 x 21.5 x 15 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Seit vielen Jahrzehnten zählt der in Südfrankreich lebende Schweizer Philippe Jaccottet zu den bedeutendsten europäischen Dichtern. Das vorliegende Buch bildet einen ganz persönlichen Querschnitt durch sein Gesamtwerk, von den frühen Gedichten bis hin zu den letzten Prosabüchern. Ein Selbstporträt des Dichters mit zahlreichen zum ersten Mal übersetzten Stücken und mit Auszügen aus Jaccottets berühmten Aufzeichnungen "La Semaison".

Autorenportrait

Philippe Jaccottet, 1925 in Moudon/Waadtland geboren, 2021 im südfranzösischen Grignan/Drôme gestorben, wurde für sein umfangreiches Werk u.a. mit dem Petrarca-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. 2014 wurde sein Gesamtwerk in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen. Auf Deutsch erschienen zuletzt Der Unwissende (Gedichte und Prosa, 2003), Truinas, 21. April 2001 (2005), die Anthologie Die Lyrik der Romandie (2008), Notizen aus der Tiefe (2009), Sonnenflecken, Schattenflecken (2015) und Die wenigen Geräusche (Späte Prosa und Gedichte, 2020).

Leseprobe

Was habe ich gewollt? Ich habe nie wirklich etwas gewollt.*Zuerst ist da dieses eher zarte, ängstliche Kind, das manchmal lieber zu lesen als zu leben scheint und sich durch alle möglichen Geschichten bezaubern läßt; dann, mit zwölf oder dreizehn Jahren, versucht der Junge, natürlich ungeschickt, nachzuahmen, was ihm am liebsten war von seinen Lektüren, von den Dichtern, die er durch die Schule allmählich entdeckt: Leconte de Lisle, der Sinnlich-Marmorne, oder, als äußerster Gegensatz, Verhaeren, der Pathetische. Ein kindisches, belangloses Unternehmen, wenn man davon absieht, daß es eine frühe Lust an Worten verrät, das Vergnügen, mit ihnen zu spielen, eine erste Gewandtheit im Umgang mit den Werkzeugen der Sprache, ohne die kein literarisches Werk Gestalt gewinnen kann.Dann kommt die Adoleszenz mit ihren Verwirrungen, ihren Springfluten von Überschwang oder Verzweiflung; und die Entdeckung, die ebenso verstörende wie verzückte Entdeckung - und diesmal zu Recht verzückt - ab 1941, 1942, mitten im Krieg (obwohl man in einem neutralen Land lebt, ist man selber nicht neutral, auch keiner der Freunde, alle sind zutiefst betroffen vom Schicksal des gedemütigten Frankreich), die Entdeckung von, bunt durcheinander, Rimbaud, Rilke, Claudel, und von Aischylos durch Claudel; in unmittelbarer Nähe auch von Ramuz - der einem beweist, daß man Waadtländer und ein großer Schriftsteller sein kann -, und noch besser: die Entdeckung jenes einsamen und zurückgezogenen Dichters Gustave Roud, der zum Freund und Beschützer wird und einem, mit siebzehn Jahren, Hölderlin offenbart. Aber die wichtigste Offenbarung, die aus all diesen Lektüren kommt, ist noch eine andere: All das, was einem im Leben an Wesentlichem zustößt, all das, was einen im Innersten berührt, vermag keine Sprache mit größerer Genauigkeit auszudrücken als die Sprache der Poesie.Wenn etwa der Heranwachsende wieder und wieder den »Balkon« von Baudelaire liest: wie sollte er nicht spüren, daß hier, in diesen paar Versen, durch den Zauber einer überlegenen Kunst, daß hier alles, was einen empfindsamen Menschen bewegen kann: Farben, Klänge und Düfte, verstärkt durch die Macht des Verlangens, durch Erinnerungen und Träume und die unendliche Tiefe, die sich jenseits dieser reichen Eindrücke auftut, daß hier das Wesen unseres Lebens selbst verdichtet und in gewisser Weise gerettet ist?Von da an und ein ganzes Leben lang wird alles so sein, ob man will oder nicht, als müßte jeder Augenblick dieses Lebens, den man wirklich gelebt hat, in dem das ganze Sein beteiligt, erschüttert, genährt wurde, fest werden und sich in Worte verwandeln; Worte, mit deren Hilfe diese Intensität des Lebens, wenigstens manchmal, bewahrt und verlängert werden, auch nach außen strahlen und vielleicht, mit ein bißchen Glück, dazu beitragen könnte, uns in jenem Zustand zu halten, in dem das »wahre Leben« möglich bleibt, uns offen zu halten, empfänglich für die Welt, aber nicht für jede beliebige Welt: nur für jene, in der durch das Nahe und durch die Freundschaft dessen, was nah ist, das Ferne und das Fernste erahnt wird; jene, wo in den Grenzen eines anerkannten Maßes das Maßlose uns daran hindert, sich in diese Grenzen einzuschließen, und pocht wie ein nicht faßbares Licht, das notwendiger ist als jedes andere.*Auf diese Weise sind Gedichte und Prosa entstanden, beinahe von selbst und wie notwendig, im Laufe eines ganzen Lebens und seinen Mäandern folgend; manchmal, selten, als die glückliche, leichte und frische Strahlung seine Leseprobe