0

Corona

Erzählung

Erschienen am 16.06.2020
20,00 €
(inkl. MwSt.)

Nachfragen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783036958378
Sprache: Deutsch
Umfang: 208 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 19 x 12.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Seit die Seuche alles in ihrem Bann hält, darf Matteo seine Wohnung nicht mehr verlassen. Vom Fenster aus beobachtet er eine prachtvoll blühende Magnolie, ansonsten ist das Leben in der kleinen Stadt beinahe zum Erliegen gekommen. Gäbe es nicht die Nichte, die sich um ihn kümmert, und eine Nachbarin, die Blumen und Wein vor seine Tür stellt, wäre er ganz auf sich allein gestellt - seine Frau ist vor wenigen Jahren gestorben. Um die unerhörte Zeit der Pandemie zu meistern, schmiedet Matteo einen Überlebensplan. Sechs Bücher, die vom Alten Testament bis in die Gegenwart führen und sich mit Seuchen beschäftigen, verschaffen ihm Einsichten über das Leben, das ihm am Ende kostbarer erscheinen wird als je zuvor.

Autorenportrait

Martin Meyer, geboren 1951, ist Journalist, Publizist und Buchautor. 1974 trat er in die Feuilletonredaktion der "Neuen Zürcher Zeitung" ein, die er während 23 Jahren leitete. Er wurde u. a. mit dem Kythera-Preis und dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet. Zu seinen Veröffentlichungen gehören "Albert Camus". "Die Freiheit leben" (2013), "Gerade gestern. Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten" (2018) sowie gemeinsam mit Rüdiger Safranski und Michael Krüger Klassiker! (2019). Martin Meyer lebt in Zürich.

Leseprobe

In der sechsten Woche seit dem Ausbruch der großen Krise spürte Matteo ein Kratzen im Hals. Der Buchhändler war am frühen Morgen aufgewacht und schlaftrunken ins Badezimmer gegangen. Er hatte mithilfe einer Taschenlampe im Spiegel über dem Waschbecken seinen Hals untersucht, der tatsächlich gerötet war. Zur Beunruhigung bestand noch kein Anlass. Der Hals konnte aus vielen Gründen entzündet sein. Der Frühling war ins Land gezogen, und die Pollen trieben wild durch die Luft. Trotzdem hatte Matteo die Mundhöhle desinfiziert. Man konnte nie wissen. Jetzt saß er in seiner Studierstube und starrte an die Decke. Bist du einsam, Matteo, fragte er sich. Vor ein paar Jahren hatte er den Tod seiner Frau betrauert, dann aber gut mit dem Alleinsein zu leben begonnen. Manchmal kam seine Nichte, Carla, die ihm Lebensmittel und Blumen brachte und ein wenig sauber machte. Ansonsten versorgte sich Matteo selbst. Die Ansprüche waren gering. Was zu organisieren war, verlangte wenig fremde Hilfe. Matteo ging zum Fenster und schaute auf die Gasse. Die ersten Zeichen des Tages machten sich bemerkbar. Die Häuser traten stärker hervor, die Statue über dem Brunnen schien zu atmen, das plätschernde Wasser des Brunnens hatte einen anderen Klang als in der Nacht. In der Nacht klang es geheimnisvoll, manchmal auch traurig. Bei Tagesanbruch wechselte die Laune. Es klang mehr und mehr zuversichtlich, wie man es erwarten durfte bei einem Brunnen, der schon Jahrhunderte überstanden hatte und nie stillgelegt war. Seit der Krise war eine seltsame Stille in die Stadt eingekehrt. Der Verkehr hatte abgenommen, die Fußgänger gingen mit genauem Ziel oder huschten schemenhaft an den Mauern entlang. In der Nacht war diese Stille mit Händen zu greifen. Sie legte sich wie eine schwere Decke über die Schlafenden, die froh waren, wenn sie von Träumen verschont blieben. Die Träume hatten mit der Krise zu tun. Sie versetzten die Träumenden in ausweglose Situationen. Manche erzählten, dass sie immer denselben Traum hatten. Sie liefen zwischen den Gassen, während die Gassen immer enger wurden, die Beine von unsichtbaren Gewichten zu Boden gezogen wurden und der Atem schwer und schwerer ging. Das Aufwachen war mit Angstzuständen und Schweißausbrüchen verbunden. Diese konnten Symptome sein oder, wie man immer noch sagte, psychosomatischer Herkunft. Die Gasse war leer. Obwohl der Brunnen die Leute dazu aufrief, vor die Tür zu treten und das Tagwerk zu beginnen, blieb sie leer. Matteo erinnerte sich, bei Franz Kafka das schöne Attribut rein und leer gelesen zu haben. Mit dem Wort rein hatte Kafka Verschiedenes zum Ausdruck bringen wollen. Matteos Gasse war nicht nur leer, sondern auch rein. Aber Matteo maß dieser Tatsache keine besondere Bedeutung bei. Die Gasse war rein im Sinn von sauber, weil sich schon länger keine Nachtfalter mehr herumtrieben, die ihre Zigaretten, ihre Papiertaschentücher, ihre Präservative oder ihre leeren Weinflaschen dort deponiert hatten. Es war zu früh, die Nichte anzurufen. Carla würde noch fest schlafen. Sie arbeitete als Arztgehilfin in einer Praxis der Innenstadt und hatte, wie sie zu sagen pflegte, einen strengen Tag. Matteos Schwester war eine ordentliche und disziplinierte Frau gewesen. Carla schlug nach der Seite der Mutter. Matteo war nicht unglücklich, dass sie noch keinen Mann gefunden hatte. So hatte sie mehr Zeit für den alten Onkel. Andererseits wäre es sicher gut, wenn Carla die Gefühle, die sie auf die Arbeit verwandte, eines Tages in Zuneigung oder gar Liebe zu einem anderen Menschen verwandeln würde. Der Verlauf der Krankheit, der durch die Krise oder Seuche ausgelöst wurde, war vielfach beschrieben worden. Matteo hatte ihn der Zeitung entnommen, die jeden Morgen in seinem Briefkasten lag. Damit kam er zwar immer ein wenig zu spät, denn das Internet war rund um die Uhr tätig. Andererseits konnte er eine beschränkte Zahl von Informationen und Hinweisen