Beschreibung
Das Glück kennt Anatol nur vom Hörensagen. Trotzdem sucht er es unermüdlich und stellt dabei fest: Das Leben ist das, was man statt seiner Träume bekommt. Als sich ihm die Gelegenheit bietet, an einem neuen Ort ein neues Leben zu beginnen, wagt er den Schritt ins Unbekannte - und muss schon bald erkennen, wie schwierig es ist, plötzlich ein anderer sein zu wollen.
Autorenportrait
Lukas Linder, geboren 1984, studierte Germanistik und Philosophie. Er ist Dramatiker, schrieb u. a. für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Kleist-Förderpreis, dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts und 2021 mit dem Kasseler Förderpreis Komische Literatur. Seine beiden Romane Der Letzte meiner Art (2018) und Der Unvollendete (2020) erschienen bei Kein & Aber. Lukas Linder lebt in Lodz.
Leseprobe
Was war das? Bestimmt nicht der Anfang von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Doch wie der naseweise Erzähler des hinlänglich bekannten Meisterwerks lag Anatol Fern im Bett und konnte nicht einschlafen. Grund dafür war jedoch nicht die Schwere der Erinnerung, die auf ihm lastete, sondern jene der Gegenwart. Mit anderen Worten: nicht nur eine - gleich zwei wuchtige Frauen, die unmittelbar neben ihm die Matratze belegten. Bei aller Melancholie fand Anatol trotzdem die Kraft, sich dafür zu gratulieren, dass er sich kürzlich vom mitleidigen Blick des Verkäufers nicht hatte einschüchtern lassen und die XXL-Comfort- Matratze gekauft hatte. Außerdem, und vermutlich war das auch der Grund, warum Anatol nicht einschlafen konnte, verhielten sich die beiden nicht gerade ruhig. Obwohl Pädagoginnen, Lehrerinnen, und damit im Alltag geforderte Wesen, die den Schlaf bitter nötig hatten, ließen sie sich nicht davon abhalten, dass Mitternacht seit Stunden vorbei war, im Gegenteil schien es sie sogar zusätzlich anzuspornen. Aber was taten sie überhaupt, hochgebildete Menschen, die sie waren? Spielten sie Schach? Diskutierten sie die Höhepunkte des Bücherherbsts? Lasen sie sich Reportagen aus der Lettre international vor? Falsch. Sie trieben es miteinander. Laut, nackt und gewaltig. Dabei entfachten sie eine Höllenhitze, die Anatol das Gefühl vermittelte, es würden direkt an seiner Seite die unglaublichsten Brotlaibe gebacken. Er selber lag ein paar Zentimeter neben diesem Liebesinferno. Nicht ganz so hitzig, nicht ganz so nackt und überhaupt nicht gewaltig. Von diesem Moment hast du immer geträumt, buchstabierte er für sich selber. Am Ende des Satzes kam ein Fragezeichen. Denn irgendwie war er sich nicht ganz sicher: Sahen so seine Träume aus? Gewiss, es war unglaublich, herrlich, einfach fantastisch: er und zwei Frauen. Purer Wahnsinn. Und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass die beiden Lehrerinnen waren. Gabriela unterrichtete Physik und Florence Turnen - beides Fächer, mit denen Anatol keinerlei sinnliches Vergnügen assoziierte. Vielmehr verlieh es dem Wahnsinn zusätzlich den Charakter einer stilvollen Revanche. Das hier waren Lehrerinnen. Vertreterinnen jener Menschenart, die früher bei ihm zu Hause angerufen und Elterngespräche verlangt hatte. Furchterregende Gestalten, die sich aus den bleiernen Lehrmitteln zu materialisieren schienen, um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Und nun lagen sie hier, auf seiner XXL-Deluxe-Matratze, nackt bis zu den Fußsohlen. Herrlich, stimmte Anatol in Gedanken einen Singsang an. Das ist doch mal ein Ereignis, das du den Jungs beim Bier erzählen kannst. Allerdings hatte Anatol keine Jungs. Und Max, sein einziger zumindest ansatzweise männlicher Freund, hielt sich gerade in einer Tinnitus-Klinik auf und war für Biergespräche eher nicht zu haben. Vielleicht war das ja auch besser so. Denn was hätte er ihm erzählen sollen: Letzte Nacht haben es in meinem Bett zwei Frauen miteinander getrieben, leider fand ich nicht die Gelegenheit mitzumachen? Wie aber hatte das passieren können? Es war schon sehr spät und sie alle waren ziemlich betrunken gewesen, als seine beiden Begleiterinnen aus einer Kehle verkündeten, sie seien zu müde, um den weiten Weg nach Hause zu gehen. Drei Stunden früher hatten sie ihn an der Bar aufgerissen, mit der einigermaßen verrucht gehauchten Bemerkung, er habe einen sexy Hintern. Anatol wusste, dass er keinen sexy Hintern hatte. Am Grad der Lüge erkannte er das Ausmaß ihrer Verzweiflung. Sie waren wohl in diese Bar gekommen, um Männer abzuschleppen, egal, was für welche. Und da er der Einzige war, der nicht völlig zugedröhnt oder sonst wie weggetreten wirkte, war die Wahl auf ihn gefallen. Es war also ein Sieg durch Enthaltsamkeit. Das klang irgendwie nicht besonders ruhmvoll, doch stellte Anatol, was Siege anbelangte, schon lange keine Ansprüche mehr. Zu Beginn war das Gespräch ziemlich harzig verlaufen. Man redete über die Schule, obwohl niemand das wollte. Au