Autorenportrait
Nicola Upson wurde 1970 in Suffolk, England, geboren und studierte Anglistik in Cambridge. Ihr Debüt Experte in Sachen Mord bildet den Auftakt der erfolgreichen, mehrbändigen Krimireihe. Bei deren Hauptfigur Josephine Tey handelt es sich um eine der bekanntesten Krimiautorinnen des Britischen Golden Age. Mit dem Schnee kommt der Tod war nominiert für den CWA Historical Dagger Prize (2021). Nicola Upson lebt in Cambridge und Cornwall. AnnaChristin Kramer, geboren 1987, übersetzt seit zehn Jahren Literatur aus dem Englischen. Für Kein & Aber hat sie Nicola Upson, Kevin Kwan, Mason Currey u.a. ins Deutsche übertragen.
Leseprobe
(ohne Titel)von Josephine Tey Erster Entwurf Gefängnis Holloway, Dienstag, 3. Februar 1903 Dann kam der eiskalte Morgen, wurde unerbittlich zum Tag, sosehr Celia Bannerman ihn auch davon abhalten wollte. Sie sah zu den zwei Reihen winziger Fenster oben in der Mauer hinauf und fragte sich, weshalb jemand beim Bau dieses elenden, widerwärtigen Lochs noch Wert auf Tageslicht gelegt hatte. Zum Hinausschauen waren die kleinen Scheiben jedenfalls nicht gedacht, selbst wenn sie nicht blind vor Schmutz gewesen wären, dazu waren sie viel zu weit oben. So sammelte sich nun der Ruß von der Camden Road Schicht um Schicht auf dem Glas und trennte die Insassinnen damit noch mehr vom Leben, das dort draußen ohne sie weiterging. Es war drückend in der Zelle, die Luft stickig, und da es kaum natürliches Licht gab, brannte Tag und Nacht eine Lampe, verweigerte der Gefangenen auch noch den winzigen Trost, wenigstens im Dunkeln für sich zu sein. Wie so vieles andere im Gefängnisalltag war auch diese Beleuchtung ein Kompromiss, es war niemals wirklich hell oder richtig dunkel. Ob man sich wohl von dem gedämpften Licht auch eine gedämpfte Gefühlswelt der Insassinnen versprach, keine Ausfälle, bessere Kontrolle? Schatten huschten über die vertraute Zellenausstattung: den hölzernen Waschtisch mit dem lächerlich kleinen Stück Harzseife, dem schmutzstarrenden Lappen, für die Reinigung von sowohl Tasse als auch Nachttopf, das Eckregal mit der Bibel für diejenigen, die tatsächlich noch Trost darin zu finden vermochten, über den Emailleteller und das Messer aus billigem Blech, stumpf wie ein Stück Pappe, und schließlich über das niedrige schwarze Bettgestell, das in der knapp acht Quadratmeter großen Zelle den meisten Platz einnahm. Die Frau darauf lag mit dem Gesicht zur Wand, doch Celia wusste, dass sie nicht schlief. Wie immer beim Gedanken an das, was ihnen bevorstand, krampfte sich alles in ihr zusammen. Einen Augenblick lang war sie wieder Kind, lag morgens im Bett, die Decke über den Kopf gezogen, und betete inständig, die Zeit möge stillstehen und sie vor dem Tag bewahren. Ihre Angst hatte sich damals fast unerträglich angefühlt, doch es waren Lappalien, die sie da beschäftigt hatten, im Vergleich zu dem, was Amelia Sach in den letzten Stunden vor ihrem Tod durchleben musste. Celia stand leise auf und ging zur hinteren Zellenwand, wo ein robuster, dunkelblauer Umhang an einem Haken hing, bewusst nur auf halber Höhe, damit auch ja niemand auf die Idee kam, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Celia hob den Saum vom staubigen Boden und versuchte, den groben Stoff mit der Hand etwas zu glätten. Es war vergebliche Liebesmüh, doch sie wollte keine Gelegenheit einer freundlichen Geste ungenutzt verstreichen lassen, und sei sie auch noch so klein. Während der drei Wochen zwischen Verurteilung und Hinrichtung war Sach stets von zwei Frauen bewacht worden. Erst waren sie einander noch fremd gewesen, im Laufe der Zeit wurden sie jedoch zu Verbündeten, fast Freundinnen. Es bestand eine ungewöhnlich starke Bindung zwischen Aufseherin und Insassin: Während der achtstündigen Schichten teilte Celia jede Sekunde Sachs elender Existenz, sah ihr zu, wie sie sich wusch und anzog, aß und weinte, lernte ihre Gewohnheiten und Vorlieben kennen wie die eines Gatten in den ersten Ehetagen. Sie hatte mit Sach gelebt, und nun würde sie sie zu ihrem Tod begleiten. Zwei Wärter waren aus einem anderen Gefängnis gekommen, für den Fall, dass die Hinrichtung ihren weiblichen Gegenstücken zu viel abverlangte, doch zwischen Celia und ihren Kolleginnen herrschte die unausgesprochene Entschlossenheit, die Sache bis zu ihrem bitteren Ende zu bringen. Nicht etwa aus Gleichstellungsprinzipien oder professionellem Stolz, und - wenn sie ehrlich war - nicht einmal, um der Gefangenen in ihren letzten Augenblicken Trost zu spenden, sondern schlicht deshalb, weil es zu spät war. Der seelische Schaden war bereits angerichtet. In den letzten Wochen hatten wirklich nur die abgestumpftesten unter ihnen die verbleibenden Tage nicht ebenso verzweifelt abgezählt wie die Verurteilte selbst. Beine und Rücken waren Celia wegen des langen Sitzens gefühllos geworden, und sie wünschte, die Taubheit würde auch ihre anderen Sinne befallen. Sie streckte die verkrampften Gliedmaßen und wackelte mit dem Fuß, um das Kribbeln abzuschütteln. Ihre Kollegin, die auf dem anderen Stuhl eingeschlafen war, spürte die Bewegung und öffnete die Augen. Die beiden sahen einander an, und Celia nickte. Es war so weit. Sie trat ans Bett, wobei sie ihren Schlüsselbund festhielt, damit er nicht klirrte. Wie albern, dachte sie - wem wollte sie hier vormachen, sie wären nicht hinter Gittern? Doch es war ein weiteres kleines Stück Menschlichkeit, an das sie sich klammern konnte. Sach spannte sich in Erwartung der Hand an ihrer Schulter an, und Celia schlug die Decken zurück, die viel zu dünn für die Jahreszeit waren. Der Geruch von alten Laken, Schweiß und Angst stieg ihr entgegen. Sach rutschte näher an die Wand und versuchte, sich die Decken wieder überzuziehen, doch Celias Griff war fest, und schließlich ließ sich Sach auf die Füße holen. Celia versuchte vergeblich, die große, ausgemergelte Frau mit der arroganten, gefühlskalten Kreatur zu vereinbaren, die seit ihrer Festnahme im November die Zeitungen gefüllt hatte. Sach wirkte viel älter als neunundzwanzig. Ihr Gesicht war grau vor Erschöpfung, und ihr Körper wirkte kaum kräftig genug, um sie zum Galgen zu tragen - wie sehr sie sich doch von der Frau unterschied, die so ungläubig, fast schon empört eingeliefert worden war. In diesen Minuten würden sich die Menschen vor den Gefängnistoren sammeln, um auf die traditionelle Verkündung der Urteilsvollstreckung zu warten. Wenn sie Amelia Sach allerdings jetzt sehen könnten, würden sie in ihr wohl kaum das Monster erkennen, das in ihren Köpfen lebte. Celia hielt die Gefangene dazu an, sich fertig anzukleiden, und gab sich Mühe, dabei nicht die gleiche mitleidige Miene aufzusetzen, die sie bei sämtlichen Besuchern bemerkt hatte. Sach hatte ihre Kleidung bereits zu Bett getragen, und Celia half ihr lediglich dabei, das vorschriftsmäßige blaue Hemdkleid überzuziehen - ausgeblichen und formlos, um jegliches Gefühl der Individualität unter den Frauen in Holloway auszumerzen. Als sie sich hinkniete, um Sachs Füßen in die schäbigen, schlecht passenden Schuhe zu helfen, bemerkte sie Löcher in ihren Strümpfen, wo die Sohlennägel in der schwarzen Wolle hängen geblieben waren und ihre Haut durchdrungen hatten. Ihre Füße fühlten sich so klein und verletzlich an, dass es Celia kurz den Atem verschlug; die Jury hatte recht, dachte sie - für Frauen musste das Hängen viel schlimmer sein als für Männer. Oder war das ungerecht? Verspürten männliche Wärter dieselbe nackte Verzweiflung, wenn für ihre Gefangenen die Zeit zum Sterben kam? Sie war zu aufgewühlt, um aufzustehen, und kurz spürte sie, wie Sach ihr die Hand auf den Kopf legte; ob die Geste als Segen oder stumme Bitte um Beistand gedacht war, wusste sie nicht, doch sie reichte ihr. Celia riss sich zusammen und fasste Sachs strähniges, ehemals hübsches rotbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, den sie zu einem Dutt rollte, weit oben am Hinterkopf, damit er nicht in der Schlinge hängen bliebe. Es war ein schlichter Akt, doch er schien Sach mehr zuzusetzen als alles andere. Rasch nahm Celia den Umhang vom Haken und versuchte, das Geräusch zu dämpfen, das eher dem Winseln eines verletzten Tieres als irgendeinem menschlichen Laut glich. Während sie Sach das Gewand um die Schultern legte, fragte sie sich, ob sich Todesangst - so wie Schmutz - in einen Stoff weben, mit jeder armen Seele, die ihn getragen hatte, weiter anwachsen konnte. Sie drehte die Gefangene um, damit sie ihr ins Gesicht sehen konnte, wollte dem überbordenden Kummer Einhalt gebieten, doch die Schreie der Frau wurden lediglich lauter und zusammenhängender. 'Lassen Sie das nicht zu! Ich habe doch nichts getan', wiederholt...